Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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ob wir um die nächste Ecke oder nach Amerika auswandern. Immer versinken ganze Gebiete unseres inneren Daseins, daß sie nur noch halbverstanden in das Bewußtsein klingen wie der Wahn eines unbekannten Fremden, und was sich ehedem leise und wie im Traum in uns gerührt hatte, schlägt unvermutet laut und stürmend die Glocke des Herzens.

      Vorderhand merkten wir, mit Ausnahme des Vaters, nichts von der beginnenden geheimen Umbildung unseres Lebens. Besonders wir Kinder überließen uns ganz dem Reiz des Ungewohnten.

      Unser neues Anwesen war ein Haus der Unruhe. Mit überdicken Mauern klebte es, zwischen drei andere gekeilt, an der Sohle jenes hohen, felsigen Absturzes, der in ferneren Zeiten eine feste, natürliche Wehr bildete, als unsere Stadt noch ein von Kriegsvölkern oft beranntes Bergnest war. Nach hinten, auf den Stadtgraben zu, hatte es, uns Kindern damals, die Höhe eines Turmes, nach vorn schmiegte es sich betulich an den Burgberg, eine Straße, die in einer engen Kurve jäh aus dem hohen Torbogen des alten Wartturmes schoß und steil gegen den Fluß hinlief. In dem alten Stadtgraben lag die Chaussee, und den ganzen Tag donnerten die Lastwagen vorüber. Über den Burgberg quietschten und ratterten die festgehemmten, leichteren Fuhrwerke bergab. Immer in Gefahr, ins Rollen zu kommen, fuhren sie an unserer Haustür vorüber. Auf der einen Seite floß der dumpfe, besonnene Lärm mehr ländlichen Lebens, und über den Burgberg ergoß sich die kleinliche Unruhe des städtischen Verkehrs. Nach dieser Seite hin türmte sich die verwitterte Stadtmauer auf, in die überall Fenster gebrochen waren, daß es an Abenden aussah, als funkten und flackerten noch die Lichter der Wachmannschaften auf dem Mauerkranze, obwohl schon Jahrhunderte die Stadtumwallung zur Wand der Hinterhäuser des Ringes degradiert war. Der alte Wartturm stieß zwar noch jäh seine ungeschlachte Spitze in die Luft und trug unentwegt den riesigen, kaiserlichen Doppeladler, wenn auch nur der alte Willmann hinter den Mauerzacken seine Nelken zog. So fielen allerlei bunte Beklemmungen auf uns, die wir, wie auf schmalem Rain, zwischen den Rädern wohnten. Kein Ausruhen und Besinnen unter eigenen Wipfeln, war mehr möglich; jeder Schritt aus dem Hause brachte uns hinaus. Dazu duldete das enge Innere selbst keine Gemächlichkeit. Stube türmte sich auf Stube. Die schmalen Flure gestatteten kein Verweilen, steile Stiegen hetzten in Leidenschaftlichkeit. Auf die breiten Baumkronen des Spitalgartens über dem Fluß spielten einen schwachen Schimmer alter, versonnener Stille in unsere Stube, und in ruhigen Nächten klang das schwache Rauschen der Neiße bis unter den Boden an unser Bett.

      Besaß mein Vater auch nun den Laden, nach dem er sich gesehnt hatte, und durfte er nun auch hoffen, nicht mehr so ausschließlich auf die Bauern angewiesen zu sein, deren Hinterhältigkeit und kleinliches Geizen er so haßte, so überkam in den ersten Wochen den starken Mann doch oft ein solches Bangen nach seinem alten Heim, daß er sich mehreremal aus dem Bette stahl und mitten in der Nacht dem Haus seiner Mutter einen Besuch abstattete. Dann sahen ihn Leute aus den Nachbargärten oft stundenlang unter dem hohen Birnbaum stehen oder auf den Steinen neben Murrs Hütte sitzen und behaupteten, er habe von Zeit zu Zeit erregt gemurmelt, als spreche er verhalten mit jemand.

      Endlich glaubte er wohl die wachsamen Augen, die aus Schleiern seinem Leben folgten, begütigt zu haben, denn er richtete sich entschieden in seiner Lage ein. Dabei geriet er in einen Streit, der, unbedeutend an sich, die schwersten Folgen hatte. In jenen Zeiten unbegrenzter Abenteurerlust nach dem glücklichen Kriege schien alles Seltsame möglich, und neben den skrupellosen Draufgängern, die Existenz und Ruf an verwegene Hirngespinste setzten, etablierten sich geheime Nester von Träumern und Projektenmachern, die nicht gesonnen waren, den unsicheren Wettlauf nach dem Reichtum mitzumachen, sondern sich begnügten, die absonderlichsten Gerüchte in Umlauf zu setzen. Bald sollte im Norden der Stadt ein großes Kohlenflöz gemutet worden sein; bald hieß es, hinter dem Gänsewinkel werde eine umfangreiche Hüttenanlage ausgesteckt zur Verarbeitung von Eisenerzen aus dem fernen Heuberge; bald redete man von der Niederlegung alter Häuser im Interesse des Verkehrs und der Verschönerung der Stadt. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Torheiten diskutiert und, endlich erschöpft, von anderen verdrängt wurden, brachte eine allgemeine Unsicherheit und Unruhe hervor und machte vor allem jene reizbar, die zu nichts entschlossen waren, als ihren Besitz zu behaupten.

      Eines Tages nun brachte ihm der Dorn-Schuster, unser Nachbar von der Wiesenstraße, die Nachricht, der Magistrat habe beschlossen, den steilen Burgberg zu verbreitern, um dadurch diese gefahrvolle Straße für die Fuhrwerke leichter passierbar zu machen. Zu dem Zwecke sollte nicht nur der Wartturm, dies altehrwürdige Wahrzeichen der Stadt, verschwinden, sondern, wenn es eben nicht anders ginge, die linke Häuserzeile vom Fleischer Mahn bis zum Schuhmacher Grulich niedergerissen werden. Mein Vater lachte herzlich nach dieser Erzählung, die Dorn unter vielen Beteuerungen seiner Treue und voll ehrlicher Bekümmernis vorgetragen hatte. Dann setzte er dem Verzagten die Gründe auseinander, warum dies undenkbar sei. Dorn hatte seine großen Hände vor sich auf den Tisch gelegt, sah meinen Vater dann und wann bewundernd von der Seite an, machte seine vielen belanglosen Bemerkungen und ging endlich beruhigt davon. Aber das Gerücht wollte nicht nur nicht aufhören, es nahm immer festere Form an. Um nicht überrascht zu werden, setzte sich mein Vater mit seinen Nachbarn ins Einvernehmen und beredete sie zu festem, einmütigem Zusammenstehen. Aber es kam wohl nicht viel dabei heraus, denn der Fleischer war ein Trunkenbold und geriet, statt zu überlegen, in unflätige Wut, der Gerber Pfeffer, dem sein Weib in der ersten Nacht die Hosen genommen hatte, wollte erst mit seiner Veronika sprechen, und der alte Grulich lächelte verlegen in seine Schusterkugel, sagte dagegen nicht weiß noch schwarz. Deswegen wollte sich mein Vater, wie er sagte, auf seine eigenen Absätze verlassen.

      Nun, das hat er schon getan, und wie! Eines Tages standen da unten auf dem Graben der Bürgermeister Schrader und der langnasige Ratmann Kunze, sahen an unserem Hause herauf und redeten und gestikulierten so heftig, als hecke wirklich der Plan in ihrem Kopfe, der kurzen Burgzeile den Untergang zu bereiten. Eigentlich redete nur der Bürgermeister mit seiner lauten Knarrstimme, während der alte Kunze sich meistens damit begnügte, Tabak in seine Nase zu stopfen und dann ein großmächtiges Taschentuch geigend an dem gefüllten Organ hin und wider zu ziehen. Ich hatte in den Tagen mancherlei aufgeschnappt, um von den Männern da unten ziemlich Schreckliches zu erwarten, nahm sie, auf der Ritsche stehend, gar sorgsam aufs Korn und tauchte jedesmal blitzschnell unter das Fensterbrett, wenn der spindeldünne Herr Bürgermeister heraufsah und seine Rechte gegen die Wand ausstreckte. Mein Vater redete tiefer in der Stube mit meiner Mutter und sagte endlich: ›Ich mach's jetzt und geh' gleich zu ihnen hinunter. Ein scharfes Wort wiegt in der freien Luft leichter als in der Stube.‹

      Damit zog er mich von der Ritsche und beugte sich zum Fenster hinaus. Sogleich rief auch schon der Bürgermeister: »Guten Tag, Meister Faber, ach, kommen Sie doch mal runter!« Mein Vater tartschte lachend die Mutter auf die Schulter und sagte: »Na also, Weib!« Die ersten Stufen nahm er laufend, auf dem zweiten Flur mäßigte er seine Eile, die nächste Stiege legte er säumend zurück und trat endlich in gemächlicher Festigkeit hinaus auf die Straße zu den Wartenden. Ich war ihm unbemerkt gefolgt, wagte mich aber nicht gleich hinaus ins Freie. Plötzlich lachte mein Vater laut auf. Da war ich draußen und lehnte von ungefähr an der Wand des gegenüberliegenden Pferdestalles, den dreien im Rücken.

      »Die Mauer da?« fragte mein Vater mit beißender Lustigkeit und deutete auf die ummauerte Senkgrube mit dem sehr schadhaften Bretterbelag.

      »Jawohl, das muß weg, auf jeden Fall, Herr Faber, da wäscht Sie kein Regen ab.«

      »Mich braucht kein Regen zu reinigen und auch sonst kein anderer. An der Grube aber rücke ich keinen Stein. Mir paßt sie noch, und wenn sie Ihnen nicht gut genug ist, dann meinetwegen ändern Sie's auf Ihre Kosten; aber stören Sie mich nicht im Geschäft.«

      Auf diese Worte ergoß sich Herr Schrader in langer Rede. Anfangs dämpfte er sein Organ, aber je mehr der Stadtgewaltige sich zügelte, desto mehr wuchs seine Erregung, und weil der Ratmann dastand und auf seine Stiefeln hinuntermurmelte, anstatt mutvoll für das Ansehen der Stadt einzutreten, wurde er immer blasser, immer dünner, immer länger, verlor endlich seine Beherrschung und blies meinem Vater etwas wütend unter die Nase, was ich nicht verstehen konnte, so nahe ich mich auch an die Gruppe laviert hatte.

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