Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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nach meiner Schwester Tode in mir erwacht war, wieder auf. Denn die Süchte des Menschen wandeln sich, aber sie sterben nicht. Glühten in jener Zeit die Augen Annas auch nicht auf mich herab, so lockte das Leuchten nicht minder in die Weiten, in denen sie scheinbar für immer erloschen waren.

      Es gab aber auch andere Abende in meinem Elternhause. Dann sagte mein Vater gleich nach dem Abendbrot zur Mutter: »Heut gehen die Kinder zeitig schlafen. Mach', daß du aufwäschst und mit ihnen betest. Ich hab's nicht gern, daß sie dasitzen und alles aufschnappen.«

      »Und ihr schert euch ins Nest«, wandte er sich an die Lehrlinge. Den Gesellen wünschte er ohne weiteres »Gute Nacht«. Bald war die Stube leer. Meine Mutter ging still umher, stiller wie sonst immer. Uns Kindern war bange, wenn wir auf sie sahen; denn sie lächelte gar selten und dann auch so schwach und schüchtern. Einmal bemerkte ich gar, daß ihre Hände zitterten, als sie einen Topf austrocknete.

      Mein Vater aber lehnte an solchen Abenden nicht behaglich in der Sofaecke, sondern saß vorgebeugt, paffte kurz und schnell aus seiner Pfeife und horchte gespannt auf jedes Geräusch draußen.

      Gewöhnlich, während wir beteten, kam dann der Besuch. Die Tür ging langsam und umständlich, als winde sich wer mit einer großen Bürde in die Stube, und nach leisem Gruß, der meist in dem Murmeln unsers Gebets unterging, suchte er mit leichtschlürfendem Schritt seinen Platz auf. Wenn unsere Köpfe neugierig herumflogen, saß der Tischler Rinke gewöhnlich schon auf der Holzbank hinter dem Tisch. Wir haßten ihn, weil er schuld war, daß meine Mutter dann so still und traurig einherging. Deswegen mochten wir ihn nie recht ansehen, sondern gaben ihm die Hand mit trotzig gesenkter Stirn.

      Einmal aber sah ich ihm voll und feindselig ins Gesicht. Das war an einem Abende, den ich nie vergessen werde.

      Die finstere Februarnacht warf Wände schweren Schnees herunter. Ein träger Wind wischte mummelnd über die Scheiben der Fenster. Unser Gebet klang dumpfer als sonst, und das Schweigen der beiden Männer am Tisch lag peinlich in dem Dämmern, mit welchem das Licht der Lampe über die Wand vor mir floß, auf die ich meine Augen richtete. Sie sah nicht aus wie eine feste Mauer, sondern wie eine regengraue Weite, gegen die wir mit unsern machtlosen Gebetsworten ankämpften, und das Christusbild in der Mitte stak gleich einem winzigen Türlein in dem Halbschatten. Während wir mit dumpfem Murmeln diesem Notausgang entgegentasteten, saß der krumme Mann hinter uns und schaute gleich meinem Vater durch das leuchtende Loch im Finstern auf all die Wunder, die mir noch immer verborgen waren. Ich empfand das wie eine bittere Ungerechtigkeit, und während ich dann dem hinter dem Tisch Sitzenden die Hand reichte, nahm ich mir vor, heute noch nicht schlafen zu gehen.

      »Schreibst du auch schon ins Heft?« fragte mich Rinke mit einem Lächeln, das mir häßlich vorkam.

      »Natürlich«, antwortete ich keck und sah ihn dabei feindselig an.

      »Was? Natürlich? Range, ist das eine Antwort?« brauste mein Vater auf.

      »O ja, Herr Rinke«, verbesserte ich kleinlaut. Aber im Hinausgehen war mein Vorsatz noch einmal so fest, alles zu erlauschen, was die beiden miteinander reden würden.

      Dann lag ich in der Kammer droben im Bett. Die Geschwister schliefen. Meine Schwester lachte zäh und formlos im Schlafe. Gegen zehn kamen die Lehrjungen heim, vorsichtig, mit ausgezogenen Stiefeln. Das Geländer der Treppe quietschte, manche Stufen ächzten. Da blieben sie stehen und schlichen dann auf den Zehen weiter. Endlich waren sie in den Betten, unterhielten sich noch eine Weile flüsternd, kicherten unter der Decke und schnarchten dann beide laut und deutlich. Der Altgesell hatte zuletzt auch heimgefunden. Leise durch die Zähne pfeifend, daß es klang, als singe er über ein Haar, war er eingeschlafen. Es schlug elf Uhr. Der Wind zerriß die Töne der Stadtuhr in der Luft und blies sie als wimmernde Fetzen durch die Ritze des Ziegeldaches.

      Schnell und lautlos wie eine Katze war ich aus dem Bett, die zwei Stiegen hinab. Vom Hausflur führte eine selten verschlossene Tür in den Laden, die ich bald ertastet und glücklich hinter mir zugezogen hatte. Im Begriff, mich zurechtzufinden, rührte ich an ein Paar Zugblätter, daß deren schwere Eisenriegel klirrend aneinanderstießen. Mit Herzklopfen heftete ich meine Augen auf die Wand, wo sich das Fenster der Glastür abzeichnete, die aus der Wohnstube in den Laden führte. Wenn das Schattenkreuz sich bewegt, dann reiß' aus! dachte ich mit klopfendem Herzen. Aber es stand ganz still, nun zitterte es ein wenig. Denn jemand ging in der Stube mit so schweren Schritten auf und nieder, daß die Tür sich bewegte und mit ihrem abgenutzten Schloß knarrte.

      Das war mein Vater.

      Ganz leise schlich ich hin. Gebückt tastete ich mit den Händen nach dem mit Flickflecken bis obenhin gefüllten Henkelkorbe, der nahe bei der Tür stehen mußte. Da wollte ich mich auf den Henkel setzen und die nackten Füße mit den Flecken einhüllen, denn mein fast unbekleideter Körper begann unter dem Frost zu beben.

      Ehe ich mich setzte, warf ich erst einen Blick in die Stube. Der Tischler saß zusammengesunken am Tisch und starrte mit seltsam aufgerissenen Augen wie ratlos über die Stube nach meinem Vater hin, der in tiefer Versonnenheit eben am Tisch vorübersteuerte. Den Kopf gesenkt, die Füße hart aufsetzend, wanderte er wie mutterseelenallein auf die hintere Wand zu. Plötzlich zuckte sein schwarzes Haupt herauf, und schrill hielt er im Schreiten inne.

      »Eine schöne Wandlung!« so redete er erregt zu dem Tischler hin. »Da meinst du, es gehe uns einen Quark an, ob der Unternehmer seine Arbeiter abmurkst? Er hat ihnen den höchstmöglichen Lohn zu zahlen und außerdem dafür zu sorgen, daß sie ein menschenwürdiges Leben führen, nicht, daß sie in solchen Löchern hausen, wo Laster und Krankheit sie im Schlafe anfallen.«

      »Und wer will sie zwingen, wenn sie es eben nun doch nicht tun?« fragte Rinke höhnisch.

      »Wer? Wir, die Gemeinde aller billig denkenden Menschen! Alle, die der Brustfleck noch schmerzt beim Anblick von Unrecht«, antwortete mein Vater entschieden.

      »Faber, Robert, du vergißt zu schnell!« Rinke gab es lächelnd zurück. »Du hattest recht, und deine Senkgrube mußte doch verschwinden. Wir sitzen doch bloß in der Karrete, fahren und lenken tun uns andere. Ob's hott oder hüh geht, ob's schüttelt und stößt, ob irgend jemand unter die Räder kommt, das ist denen egal ...«

      »Bis es dem Meister endlich einmal zuviel wird«, vollendete mein Vater mit tiefer, bewegter Stimme. »Dann nimmt er die Kandare selber in die Hand. Laß gut sein, und wir Männer haben Gewalt über ihn. Wenn tausend rechter Herzen zusammenstehn, dann muß er ihn' den Willen tun.«

      Es entstand eine lange Pause, und ich hörte meine Mutter vom Ofen her, wo sie wohl saß und strickte, mit geschlossenem Munde husten.

      Endlich fragte Rinke trocken: »Du meinst mit dem Meister Gott?« Mein Vater bejahte schweigend. »Und wenn der nu nich will? Wenn der sich um das Zappeln in unserer Brust nischt kümmert?« Mein Vater schwieg.

      »Ach, und da meinste, da hilft eben das Beten, was?« Des Tischlers Stimme war leise und boshaft.

      »Warum denn nicht?« antwortete mein Vater nach einer Pause. »Es braucht nicht auf den Knien zu sein und nich aus 'm Buche. Man steht ehrlich auf seinen zwei rechtschaffenen Beinen und zuckt nich mit der Wimper, und mag's auch lange anders aussehen.«

      »Und da läßt er dich stehen, bis du umfällst. Ja, ja, Faberlein! Hi, hi, hi.« Rinke hatte mit unnatürlich hoher Stimme gesprochen und lachte dann leise in sich hinein. Darauf fuhr er fort: »So is' und nicht anders! Wer hat gewart' wie ich und is nie so ganz verzweifelt. Aber es hat mich gepreßt Jahr um Jahr, ohne Absetzen. Und nu seh' mich einer an! Bin ich noch ein Mensch? Nee, nee, Robert! Wenn's da droben eenen Meister hat...«

      »Rinke, reden

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