Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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nicht fassen, Erfahrungen, denen wir nicht gewachsen sind. Die Seele sucht diesen unseligen Geschenken durch krause Wildheit zu entfliehen und errichtet in Notwehr einen Wall rüder Tollheit um sich. Was für ein Rüpel wurde ich nach der Schlucht, die jene Nacht in mein Leben gerissen hatte, in der der Kampf meines Vaters mit dem Tischler Rinke begann, der Schrecken meiner Lehrer! Fast die ganze Stadt fürchtete mich. Das Wort »Gehorsam« war auf einmal aus meinem Bewußtsein geschwunden. Keine Achtung und Ehrfurcht besaß ich, nichts Demütiges und Weiches mehr, überall schrie ich mein brutales »Ich«. Meine Lehrer erschöpften umsonst die ganze Stufenleiter ihrer Strafen an mir; die alten Weiber riefen Gottes Strafgericht über mich, die würdigen Bürger prophezeiten meinem Vater das größte Unglück mit mir.

      Meine Mutter, die mich sonst mit einem Blick ihrer sanften Augen regiert hatte, schritt zu einer permanenten Prügelei. Ich lachte sie aus. Mein Vater schlug mich oft, daß ich besinnungslos weggetragen werden mußte. Es half nichts. Ja, einmal geriet ich über eine vermeintlich ungerechte Züchtigung in eine solche Wut, daß ich ein auf dem Tische liegendes Brotmesser ergriff und auf meinen Vater eindrang. All mein Sinnen verfing sich in Abenteuerlichkeiten; all mein Handeln wurde zur Verirrung; ich lebte in einem Rausch des Widerstandes gegen alles und alle. In jenen Zeiten kochte ich auch in den Fiebern einer frühzeitigen erotischen Entzündung, verlor meine Unschuld und vergriff mich an mir selbst.

      Manchmal aber kam doch in meine fessellose Seele eine tiefe Reue, die einem Wüten glich. Ich weinte über mich bis zum Taumel. Dann verbrachte ich Tage in stiller Einsamkeit auf dem Dachboden oder unter den Weiden am Neißeufer und peinigte mich mit aller Art Entbehrungen wie ein Asket, um nach kurzer Spanne in einem wilden Streich all die guten Vorsätze wie Plunder von mir abzuschütteln. Meine verwilderten Haare, meine schmutzigen Hemdärmel, meine stets zerrissenen Hosen tauchten wieder überall auf, wo es Lärm, Verhöhnung, zerschlagene Fensterscheiben und nächtlich läutende Hausglocken gab. All meine Kameraden jener tollen Monde sind verkommen, im Trunk, in Straßengräben, im Gefängnisse. Ich rettete mich vor dem vollkommenen Verlieren bis heute. Denn es gab zwischen mir und ihnen stets eine letzte Schranke, deren Überschreiten ich ihnen wehrte. Im Innersten verachtete ich sie. Dort trug ich, was sie nie kannten, heimlich und unversehrt, den süßen Schimmer meiner frühen Kindheit über mir. und er lag auf diesen dunklen Stunden, wie das weiße Mondlicht in der Nacht auf schwarzen Dächern liegt.«– – – – –

      Faber verstummte. Die Hände zwischen die Knie geklemmt, saß er lange mit geneigtem Kopfe da. Auf ein erinnerndes Räuspern von mir hob er seinen zerflossenen Blick in meine Augen und nickte mir, schwermütig lächelnd, zu.

      »Ich erzählte ein wenig zu umständlich«, sagte er. »Aber für den Zweifelsüchtigen gibt es keine Sicherheiten und keine Selbstverständlichkeit.«

      »Im Gegenteil,« erwiderte ich, »über die Gründe des plötzlichen Bruches zwischen deinem Vater und Rinke hast du mich noch nicht genügend unterrichtet.«

      »Hm, hm. Na ja«, antwortete er, sann ein wenig nach und fuhr sich dann über die Augen. »Aber ich kann nicht mehr, ich fühl's, daß ich dem Kreisen, das nun auf mich zukommt, nicht mehr gewachsen bin. Vielleicht, wenn ich es doch erzwingen wollte, würde ich mitten im Erzählen einschlafen. Es muß übrigens nicht mehr weit von zwölf entfernt sein.«

      Ich zog die Uhr und sah, daß sie schon ein Viertel nach eins zeigte.

      »Na siehst du, Kastner! Hab' Dank für die Ausdauer. Ich werd' mich aufs Ohr drücken. Denn drei durchwachte Nächte machen sich endlich doch geltend, und dann ist eine nahende Sicherheit über mir. Vielleicht muß es doch nicht sein. Morgen abend um sieben erwarte ich dich hier. Das heißt, wenn du willst.«

      »Faber!« sagte ich vorwurfsvoll.

      »Schön!« Er nahm die Lampe und geleitete mich an die Haustür. Ich lehnte das Anerbieten seiner Begleitung ab. »Also auf Wiedersehen!« rief er mir nach, der ich schon zwischen den Obstgärten hineilte. Die Nacht war dunstig-blauweiß. Aus allen Ästen schüttelte der Wind die blassen Blätter überreifer Blüten über mich auf den Weg. Im Säuseln der Birken, auf dem Hügel zwischen Raspenau und Wecknitz, schrak ich herauf. Die Birkenstämmchen standen wie weiße schwanke Tempelsäulen um mich, und der machtlose Vollmond sank nach dem schwarzen Brausen des Feistelwaldes hin.

      Ende der ersten Nacht.

      Die zweite Nacht

       Inhaltsverzeichnis

      Der andere Tag hatte vom Morgen bis zum Abende gleichsam an der Schwelle der Nacht gelegen. Wie ein blasser Bechermund hing die Sonne in der Höhe und goß schwere Nebel über alles aus, daß die Erde zur Wolke im Gewölk wurde. Als ich die sanfte Lehne gen Wecknitz hinanschritt, sang der Turm von Naspenau mit seiner tiefen, alten Glocke Abendsegen. Die Klänge fielen kraftlos durch die Luft und erloschen im Grase. Nachdem die Erde den letzten Ton eingesogen hatte, kam ein Schimmer, eine machtlose Heiterkeit über sie. Freilich sah ich davon nichts als das schwache Leuchten der Wiesen ein wenig rechts und links vom Wege, denn ich ging gesenkten Auges hin und wollte meinen Blick erst im Birkenwäldchen zu dieser späten Schönheit erheben, um die volle Überraschung zu genießen. Indes ich so Fuß vor Fuß setzte und halbe Betrachtungen durch mich hinschwanden, näherte sich mir auf dem Wege das dumpfe Stoßen von Schritten. Da träumte ich versonnen in mich hinein: das könnte ja das Poltern sein, das dem Webstuhl eines Wecknitzer Häusleins entlaufen sei, weil es sich nicht mehr von dem plumpen Holze hin- und herschlagen lassen, sondern in die weite Welt laufen wollte, um dort auch etwas zu lernen.

      Aber ich war nicht imstande, den sonderbaren Einfall zu Ende zu spinnen, denn das Poltern war mir ganz nahe gekommen und hielt dicht vor meinen Füßen. Ich hob lächelnd mein Gesicht, um zu erfahren, in was für einem Leibe es stecke und sagte fragend und überrascht: »Nun?« Es nahm mit ungewöhnlich langen Armen seine alte Mütze vom Kopfe, machte etwas wie eine Verbeugung und sagte dann: »Ach, Sie wern nämlich woll verzeihn, ich bin nämlich Plaschke aus der Wecknitz. Plaschke Thaddees.« Und weil es mir nicht gelang, das Lächeln zu unterdrücken, fuhr das Poltern fort: »Ich bin ein eenfacher Mann, freilich. Es is au nich wegen mir. Sie sein doch der Herr Lehrer Kastner aus Raspe, der de gestern bei unserm Herrn war?« Ich nickte. »Nu sehn Sie, do sein mer ja! Nämlich, meine Älteste, de Liese, is doch bei 'm aso fir Wirtschaftern, mecht ma sprechen. Na und das is Ihn ein komsches Mädel, vo der erschten Windel an, of deutsch gesagt. Sie hat Ihn aso een ganz andern Geist, wie mir Plaschke-Leute alle, daß ees wahrhaftig manchmal denken muß, sie zwirnt doppelt. Wissen Sie, aso koplischant und konzise is sie und auch mangolsch, mit eem Worte, versponnen. Da mochte unser Herr Lehrer ein Auge of sie gekriegt haben in der Schule. Und dernachern leid't er nich, daß sie spult, sorgt fir Kleeder. läßt sie das Kochen lernen in Siebenhuben beim Klemt-Gastwirt, alls. Nach, eene solche Guttäte soll ma sich doch suchen dahier in der Welt! Au sonst hilft er uns da und dort, wenns amal hapert. Mich schmeißt nämlich der Herrgott mit Kindern. Und Meine, nämlich gutt is sie ja, alle ponähr, nä, da mißt' ich liegen. Aber sie is doch, wie ma spricht, ein Pfriemer, dar de in Essig getaucht is. begiehts, beißt und sticht, manchmal tagelang. Was soll ma da machen?«

      Plaschke hatte den Faden verloren und stach mit dem Stock im feuchten Sande des Weges umher. Dann sah er mich erwartungsvoll an.

      »Sie wollten mir von Ihrer Tochter erzählen«, sagte ich und sah prüfend über ihn hin, über seinen vierschrötigen, zusammengesessenen Oberkörper, der auf langen, dürren Beinen balanzierte und auf sehr kurzem Halse einen ungemein ausdrucksvollen Kopf trug.

      »Richtig, nee, nee. Ma vermärt sich aso. Ich bin nämlich hinterm Webstuhl afir, of gut Glücke naus geloffen, die is gleich hinter mir.«

      »Die Liese?« fragte ich.

      »Ebens,

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