Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr страница 122
Sie neigte sich und berührte mit kalter Lippe meine Stirn. Dann schob sie mich einen Schritt von sich und sagte endlich, jede Silbe hart und bitter betonend: »Sie haben deinen Vater beschimpft. – Meinen stolzen, herrlichen Mann«, setzte sie, sich selbst vergessend, hinzu.
»Wer?« rief ich, »ich spuck' ihm ins Gesicht! Ich weiß ...«
Verweisend hielt sie mir den Mund zu und zog mich fort, die Stiege hinab.
Drunten trafen wir den Vater, der halb angekleidet auf- und abging.
»Range, was hast du für einen Lärm gemacht?« schnaubte er mich an.
Seine Stimme donnerte noch, klang aber doch wie eingezwängt, und durch das halboffene Hemd sah ich seine behaarte Brust in heftigen Stößen arbeiten.
Mit gesenktem Kopfe stand ich vor ihm, und etwas wie ein Verlangen nach Schmerz und Demütigung wurde in mir wach. So hob ich in scheuer Bitte mein Auge. Aber er verstand meinen Stolz nicht, sondern berührte mit der Hand verzeihend meinen Scheitel und sagte unter beißendem Lachen zu meiner Mutter: »Nun, ich muß es eben wegkratzen.«
Die Laterne in der Hand, verließ er schütternden Schrittes die Stube. Als ich hinter ihm drein wollte, fing mich die Mutter mit schmeichelnden Armen auf.
»Aber ich will sehen, was Vater wegkratzt«, sagte ich hastig.
»Laß sein, das ist nicht für ein Kind«, sprach sie traurig.
»Ist es etwas sehr Böses? Hund? – Luder? – Zigeuner? – Noch schlimmer?« fragte ich, mich überstürzend.
Meine Mutter nickte schmerzvoll und sagte, mir die Haare aus dem Gesicht streichend: »Das verstehst du noch nicht.«
»O ja,« bettelte ich. »Mutter, wir haben ja schon Dezimalbruchrechnung.«
»Ach Gott, ach Gott, mein armer Junge«, antwortete sie widerstrebend. »Du darfst es aber niemand sagen, auch Peter und Resa nicht. Es steht draußen an der Wand neben der Tür mit Farbe geschrieben: ›Hier wohnt ein Sozialdemokrat‹.«
»Ist das noch mehr wie Teufel?« fragte ich erschreckt.
Da schloß sie mit einem langen Kuß meinen Mund. Allein ich war doch tief bekümmert. Beim Ministrieren betete ich tiefandächtig für meine Eltern und bat Gott inständig, er möge den strafen, der die abscheulichen Worte an unser Haus gemalt hatte.
– – – – – – –
Mein Gebet war umsonst. Gott schützte weder meine Eltern, noch strafte er den Übeltäter. Etwa acht Tage darauf, Montag früh, sammelte sich vor unserm Hause eine Menge Menschen an, zischelten miteinander, stießen sich in die Seite und sahen dann wieder an der Wand hinauf. »Haha,« schrien die Gassenjungen, »Sozialdemokrat!« Ja, es stand wieder an der Wand, dasselbe wie vor acht Tagen, nur hatte der Erbärmliche, wohl weil er bemerkt hatte, daß seitdem alle Morgen in der finstern Frühe die Wand in Manneshöhe mit der Laterne abgeleuchtet worden war, mit Aufopferung seine Verleumdung über die Haustür gemalt, so daß sie unserer Wachsamkeit entgehen mußte. Der Skandal an sich und die freche Pfiffigkeit des Unbekannten versetzten den Schwarm der Gaffer in die vergnügteste Laune, auch in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser drängten sich neugierige Gesichter. Aus allem ging hervor, wie wenig Sympathie mein Vater genoß, der, einer landfremden Familie mit unerforschlicher Vergangenheit entsprossen, ernst und schweigsam seinem Haus und Geschäft lebend, sich so ganz den faden Eitelkeiten der kleinen Stadt fern hielt. Und während draußen die schadenfrohe Neugier sich erschöpfte und wieder entzündete, durchmaß mein Vater sinnend die Stube. Kein Wort kam von seinen Lippen. Er trug das bleiche Gesicht zur Erde geneigt und fuhr sich von Zeit zu Zeit hastig an seinen Schnurrbart. Da wagte endlich meine Mutter ihn zu erinnern, daß es notwendig sei, Anstalten zur Entfernung der ärgerlichen Worte zu treffen. Doch das versetzte ihn in Zorn: Er wolle sich nicht ein zweites Mal narren lassen, hinausgehen und unter dem Gelächter des Packs das Gekritzel von der Wand schaben. Außerdem sei das Sache der Polizei, die die Bürger zu schützen habe und durch lässige Handhabung des nächtlichen Wachtdienstes sich mitschuldig an der Infamie eines Schurken gemacht habe. Nun ward er mich gewahr, der, in eine Ecke gedrückt, beklommen alles verfolgte. Mit rauhen Worten wies er mich zur Schule, und als ich ihm die Hand zum Abschied reichen wollte, schob er mich von sich. Meine Mutter gab mir einen Kuß und flüsterte mir zu: »Gott mit dir, mein Junge!«
Mit fressender Scham im Herzen wand ich mich durch den Menschenknäuel und floh zur Schule. Als ich die Klasse betrat, schrie mir alles entgegen: »Sozialdemokrat!« Mir war aller Mut abhanden gekommen; ich weinte mit zusammengebissenen Zähnen in mich hinein und wagte kaum aufzublicken. Plötzlich stand vor mir der Sohn eines Gerichtssekretärs, ein langaufgeschossener, blasser Junge mit sonnensprenkligem Gesicht, roten Haaren und widerlichen Augen. Ich hatte ihm in meinen wilden Wochen bei einem Klassenaufruhr mein Tintenglas auf den steifgebügelten Sommeranzug geworfen, weil er sich stets zu den Reichen hielt und in den Häusern der Vornehmen herumdienerte, während er den Handwerkerkindern ein hochfahrend abstoßendes Wesen zeigte.
»Seid mal ruh'g, Jungens!« schrillte seine dünne Stimme in den Lärm. Mit einem Male war es still.
»Du, Bürschchen,« sagte er und beugte sich zu mir. »du, weißt du, daß du der Sohn eines Diebes und Räubers bist? Ins Rettungshaus gehört sowas, ins Zuchthaus!« Damit hieb er mir eine Ohrfeige herunter.
»Du lügst, lügst, lügst!« heulte ich in Qual, und mein eisenbeschlagenes Lineal sauste so wuchtig über seinen Schädel, daß das Blut spritzte. Die ganze Klasse stieß einen einzigen Schreckensschrei aus. Dann sprang man auf mich ein. Wütend um mich hauend, gelang es mir, die Tür zu erreichen und auf den Flur zu entfliehen. Hier prallte ich auf den Lehrer. Er packte mich am Arm, und als er das Blut an dem Lineal bemerkte, kam blinder Zorn über ihn, daß er mich an den Haaren unter Schimpfworten in die Klasse zurückzog.
Ich stand am Katheder, und es war mir, als sterbe ich ab, nicht aus Furcht, nein, aus Scham. Es kam eine Starre über meinen Nacken, vor den Ohren sauste es. Mein ganzes Fühlen war ein hilfesuchender Schrei, und ich weiß sehr wenig von dem Strafgericht, das über mich erging. Der Schuldiener prügelte mich, und der Lehrer verbot meinen Mitschülern, mit mir zu verkehren. Dann setzte er mich auf die letzte Bank zwischen zwei verlauste Betteljungen. Mehr weiß ich nicht. Es ist ungerecht! – wühlte es in mir. Die unschuldig erduldete Schmach brachte Ekel, Haß und Verachtung über mich. Blöde und stumpf hockte ich auf meinem Strafplatz. Zuletzt schlief ich vor Ermattung ein. Erst der Schlußgesang der Klasse weckte mich. Als letzter verließ ich das Zimmer und gelangte auf menschenleeren Gäßchen