Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Mit hilfesuchenden Augen sah ich meine Mutter an, die all das mit der Überzeugungskraft geredet hatte, die großer Liebe eigen ist; aber trotz unbedingter Hingabe an sie, gelang es mir nicht vollkommen, das als Spuk anzusehen, was mich mit geheimem Glück erfüllte, ungeachtet ich vor der Tatsächlichkeit der schrecklichen Folgen für Rinke zugleich wünschte, es möge alles nur eine Heimsuchung des Fiebers gewesen sein. Mein Vater hatte während des Zuspruchs meiner Mutter am Fenster gestanden und uns den Rücken zugewandt. Jetzt, da ich bestürzt schwieg, kehrte er zurück, blickte mich lange überlegend an, schloß dann die Augen und nickte sich versonnen zu. »Hm, hm,« sagte er darauf mit etwas spöttischem Lächeln, »du willst also mit einem Streichholz dem Manne ins Gesicht geleuchtet haben?« Ich brachte ein furchtsames »Ja« heraus. »Und glaubst fest, daß es der Tischler Rinke gewesen sei?« fragte er weiter. Ein Zug im Gesicht meines Vaters, ein Schwingen seiner Stimme gab mir den sicheren Glauben an das Erlebnis der Nacht plötzlich wieder, und ich antwortete unerschrocken: »Ja, es war ganz gewiß Rinke. Er lag da, und aus seiner Wunden Stirne floß Blut.«
Nach einer langen Pause, die er wieder geschlossenen Auges zubrachte, sagte mein Vater mit einem schwach sieghaften Blick auf meine ängstlich gewordene Mutter zu mir: »Nun, Franz, beruhige dich. Wenn es Rinke gewesen wäre, so hätten wir ihn oder seine Leiter heut morgen finden müssen, nicht wahr?«
»Aber hast du nicht den zerbrochenen Farbentopf und die Schablone gefunden?« fragte ich, obwohl das Lächeln meines Vaters längst zur bitteren Grimasse geworden war und sein Auge in zehrender Glut brannte.
Statt mir zu antworten, wandte er sich an meine Mutter. »Ich glaube,« sagte er, »die Ladentürklingel ging.« Am liebsten wäre ich auch aufgesprungen und ihr nachgelaufen, die ohne ein Wort sich erhob und eilig auf den Flur verschwand, denn alle Gesten meines Vaters waren eisig gemessen und umständlich, als bereite sich in ihm ein verheerendes Gewitter. Beklommen streckte ich mich ins Bett zurück. Da stand er auch schon hart neben mir, beugte sich über mich und sprach mit unnatürlich leiser Stimme: »Es kann natürlich nicht anders sein, als wie deine Mutter gesagt hat; denn warum hättest du das alles auch wagen sollen?« Ich mußte meine Augen schließen vor seiner furchtbaren Nähe. »Franz, du?« fragte er noch einmal und legte seine Hand auf meine Achsel. Mir schlug das Herz, und ich glaubte, es sei nun alles vorbei, darum wagte ich zu bekennen, was ich in all den Jahren ersehnt hatte. »Weil ich dir so gut bin. Vater!« hauchte ich und lag regungslos und ergeben. Aber statt schneidendes Gelächter zu hören, fühlte ich einen langen Kuß auf meiner Stirn, und seine tiefergriffene Stimme sagte: »Mein lieber Sohn.«
Es war mir unmöglich, die Augen zu öffnen; ich ward wie von Wellen geschaukelt, und doch lag ich in einem Schein strahlenden Lichtes. Er hat mich geküßt, mein Vater hat mich geküßt, sang es in mir, und mein Herz schlug gleich einem unbändigen Vogel. Als ich endlich die Augen erhob, war ich allein. Der Sonnenschein glühte zitternd über dem Dach der gegenüberliegenden Mühle; das Pfeifen der Stare im Spitalgarten war zum Schmettern geworden; das Blau des Himmels flatterte wie eine Fahne aus dem weißen Gewölk. Mein ganzes Leben war eine Süßigkeit von Anbeginn. Durch die Wand, an der ich lag, hörte ich meiner Mutter bedachtsames Wirtschaften; von der Werkstatt her sprang vielfältiges Gehämmer durch die Diele. Es war, als klänge um mich die Emsigkeit guter Geister, die nichts anderes trieb, als mein Bestes zu wirken.
In dieser Gehobenheit und tiefinnerlichen Sicherheit brachte ich den ganzen Tag zu. Und obwohl am andern Morgen der Glaube an die Wirklichkeit meines Kampfes mit dem Tischler noch ganz sicher bestand, war das Ereignis selbst mir nicht mehr so bedeutsam, daß ich hätte dadurch versucht werden können, meiner Eltern Wunsch zu brechen. Wir war es genug zu wissen, es solle verborgen bleiben, und daß meine Seele, die nicht begriff, wozu die Schweigsamkeit gut sei, so tat, als wäre ihr alles klar und nötig, das verlieh mir vor mir eine über die Jahre hinausgehende Würde. Im stillen stellte ich mir schon vor, wie ich mit meinem Vater rede, neben ihm sitze oder hergehe, und wie er sich hin und wieder zu mir neige, wie zu einem Freunde. Wenn ich in Gedanken bis zu diesem Ereignis gekommen war, so wußte ich immer nicht, was mein Vater zu mir sagen würde. Ich sah nur im Geiste seine schwarzen Augen unverwandt auf mich gerichtet, die mehr glühten als sonst, weil sein Gesicht so sehr blaß war, und sein Schnurrbart zitterte wie in leisem Winde. Aber was ich ihm sagen lassen sollte, konnte ich nicht herauskriegen. Den ganzen Nachmittagunterricht, während des Schreibens und Lesens, hatte ich mich mit meinem Vater umhergetrieben und war immer herzlicher geworden. Allein, wenn die Hauptsache kommen sollte, wenn er sich zu mir neigte, wurde sein Gesicht weiß, sein Auge bohrte, sein Schnurrbart zitterte, aber er sagte kein Wort mehr. Als ich nun aus der Schule heraustrat auf den Platz, fuhr ein Tischlerjunge auf einem Zweiräder zwei lange, neue Bretter vorüber und hielt mit seinem Gefährt an der Kirche, vor dem engen Pförtchen, das von außen auf das Chor der Jungfrauen führte. Ich bemerkte, daß es einer von den Lehrlingen des Tischlers Rinke sei, ging in der Reihe mit meinen Mitschülern bis um die nächste Straßenecke und lief dann auf den Platz zurück, trotzdem der Aufpasser einen unangenehmen Lärm machte. Der Junge saß auf den Brettern und kraute sich den Kopf. Mit Steinen, die ich vor mir herrollte, spielte ich mich an ihn heran. Als ich hart neben ihm war, richtete ich mich auf und sah ihn an.
»Na, habe ich das Maul nich die Quere?« fragte er mich höhnisch.
Darauf hatte ich gewartet und erwiderte schlagfertig: »Freilich, und de Ohre an den Stiefelschäften.«
»Gell, du bist der Faber-Junge?« fragte er.
»Och,