Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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So trabte ich bangen Herzens nach meiner Schulentlassung mit einer Schar Knaben zum Pfarrer Zimbal, unserem Ortsschulinspektor, um ihm, wie es Sitte war, für den genossenen Unterricht zu danken.
Wir standen in langer Reihe an die Wand gedrückt im Hausflur des Pfarrhauses. Die anderen Knaben scherzten flüsternd miteinander. Hin und wieder hielt sich einer mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu und lachte, indem er sich zusammenkrümmte, bei geschlossenem Munde, daß seine Backen aufliefen wie zwei kleine Kürbisse.
Mir klopfte das Herz in Erwartung. Der leise Lärm verstummte, und unsere Füße fuhren zusammen, als oben eine Tür in den Angeln schwang und die feierlichen Schritte des Erwarteten laut wurden. »Er is – er is nich!« wisperte es verstohlen durcheinander. Dann aber erklang ein Räuspern. Er erschien am Anfang der Treppe. »Gelobt sei Jesus Christus!« riefen wir den schwarzen Beinkleidern da oben entgegen. »In Ewigkeit. Amen!« antworteten sie.
Dann stand der geweihte Herr vor uns, den Zeigefinger der Rechten überlegend in die geschlossene schwarze Weste gehängt, und ließ seine metallgrauen, kalten Augen die Reihe hinabgleiten. Als sie auf mich trafen, bäumten sie sich einen Augenblick ärgerlich zurück. Er strich sich aber den Unmut aus dem breiten Gesicht, und indem seine Hand schnappend von dem glänzenden Doppelkinn abglitt, begann er seine Ermahnungen an das andächtig lauschende, jugendliche Plenum. Ich befand mich in einer zerrissenen Stimmung. In Furcht vor abermaliger öffentlicher Verletzung war ich hergekommen; durch seine abweisende Gebärde hatte sich ein Mißtrauen hinzugesellt, das mir wehtat, nicht nur weil mein frommes Herz nach heiligem Zuspruch verlangte, sondern weil mein ganzes Inneres durch die schweren Ereignisse der letzten Zeit so wund getrieben war, daß es förmlich nach Güte und Trost schrie. Ein ehrlich liebevolles Wort hätte mich armes Kind an seine Knie gedrückt und vielleicht für immer an die Nacht gefesselt, deren Vertreter er war. Das verstohlene Flehen meiner Augen aber blühte ihm umsonst.
»Nun geht und lasset die Samenkörner des Glaubens und der christlichen Liebe in euren jungen Herzen wachsen«, so endete er die Reihe von Sätzen, die gleich bunten Blasen, selbstgefällig schillernd, über unsere Köpfe hingefahren waren. Wir traten einzeln an ihn heran, sagten unser Sprüchlein und küßten ihm die Hand. Für jeden hatte er nun ein liebes, ermunterndes Wort; diesem streichelte er die Wange, jenem legte er milde seine Hände auf den Scheitel.
Ich hatte mich an der Tür aufgestellt und kam als letzter zum Handkuß. Die Stiefel der anderen sprangen schon klappernd über den Kirchplatz. Zaghaft näherte ich mich ihm. Aber er scheuchte mich mit Stirnrunzeln zurück und fragte: »Du – du bist ja wohl – mh – der Faber, nicht wahr? – Der Sohn von dem – mh – Faber-Sattler?«
Allein ich knickte nicht zusammen, da er in grausamer Mühe Nägel in mein Gemüt trieb. Es riß die Wehmütigkeit aus meiner Seele, und mit keckem Zorn im Auge antwortete ich scharf und laut: »Jawohl, der bin ich!«
»Seh' mir einer den Wicht an!« rief er mit leisem Empören. »Warum kommst du denn da erst her? Ein Lump wirst du ja doch.«
»Das wird sich zeigen!« gellte ich.
Dann floh ich ohne Gruß. Ein Würgen fraß sich in meiner Brust aufwärts. Ich lief wie sinnlos über den Kies. Aber in der Mitte des Kirchplatzes legte es sich wie zwei unbarmherzige Arme um meine Brust und preßte sie so heftig zusammen, daß ich nach Atem ringend stehen bleiben mußte.
Plötzlich verdunkelte es sich um mich; es rieselte grau aus der Höhe, ein ganz leiser Wirbel, der bald wie kreisender Nebel um mich stand und durch mich lief, daß es ätzend über meine Augen floß und stoßend durch meine Brust polterte.
Eine alte Frau ging gerade vorüber.
»Jüngla, dir is wohl schlecht?« fragte sie mitleidig. Wahrhaftig, da stand ich großer Junge, der ich mich vor der Mitternacht und dem Rinke-Tischler nicht gefürchtet hatte, mitten auf dem Kirchplatz und weinte. Ärgerlich riß ich mit dem Ärmel der Jacke die Tränen aus den Augen. Dann wandte ich mich um und spähte, ob irgend jemand dastehe und sich über mich lustig mache. Ich wäre in blindem Zorn über ihn hergefallen. Wie ich mit meinen Blicken so in Streitlust umherstöberte, kam ich an das vergoldete Bild des gekreuzigten Menschenfreundes, das an einem massigen Kreuze vor der Mitte der Kirchenfront hing. Die Schatten der kahlen Zweige der beiden Ahornbäume lagen wie blutschwarze Striemen über seinem Leib. Aber in unermüdlicher Wehrhaftigkeit beschützte er mit ausgebreiteten Armen sein Haus. Die Mauer der Kirche hatte hinter seinem Rücken einen tiefen Riß, vom Dachfirst bis in die Grundmauern, doch der Heiland wußte davon wohl noch nichts; denn sein Antlitz strahlte wie immer voll göttlicher Sicherheit. Ich bemerkte den Schaden heute zum ersten Male, und eine seltsame Ruhe kam in mich. Nicht, als ob ich die eben erlittene Züchtigung als berechtigt anerkannt hätte; ein kühler, unbegreiflicher Trost floß in mein Herz. Grübelnd ging ich von dannen. Auf dem Ringe fiel mir ein, daß sich mein Vater über die lieblose Behandlung, die mir in der Schule zugefügt worden war, beim Pfarrer beschwert hatte. Aber was konnte ich für die Bosheit der anderen? Oder hatte der Pfarrer bemerkt, daß ich das Weihwasser von meiner Stirn gewischt hatte, da mein Vater aus der Kirche vertrieben worden war? Ach nein, ich war ja schon außerhalb der Kirche gewesen. Vielleicht hatte es jemand gesehen und ihm gemeldet. Der Kirchplatz war aber doch leer gewesen.
Zuletzt überfiel es mich wieder: Die Kirche hat einen Riß vom Dach bis in den Grund.
Sonderbarerweise nahm ich das als die Erklärung der pfarrherrlichen Lieblosigkeit hin.
Zu Hause angekommen, wich ich mit großer Ruhe und männlicher Sicherheit den Fragen meiner Mutter nach dem Ausfall der Audienz durch allgemeine Bemerkungen aus.
Ich war gewachsen und fühlte es in der Ferne meines Bewußtseins wie ein dumpfes, namenloses Wehe, eine schmerzvolle, weite Leere, über der bitterblasse Helle lag.
Dann stieg ich mit kaltem Lächeln die Treppe hinauf. In der Kinderkammer stand ich lange neben meinem Bette, in dem ich mich so oft mit traumheißen Wangen umhergeworfen hatte und genoß in wehem Stolz etwas wie das Gefühl des Vertriebenseins. Ein schmaler Sonnenstreifen strich über meinen Scheitel hin. Ich ließ das feine Gewebe der rastlos tanzenden Lichtstäubchen über mich rinnen, trat ins Dunkel zurück und sah es mit wartenden Sinnen an, wiegte mich hin und her, aus dem Licht in den Schatten, und alles geschah so willenlos, als sei ich ein Gewächs, das von einem inneren Luftzug geschaukelt würde wie eine Blume, die sich befruchtet fühlt.
Da traf mein Auge, die bebende Sonnenschwinge entlangschauend, auf den zitternden Lichtkreis, den sie an die gegenüberliegende Bretterwand malte. Das Loch in der Finsternis um uns ... und plötzlich fiel mich große Trauer an, daß ich so im Schatten stehe und eigentlich nichts mehr habe, als diesen ärmlichen Lichtkreis, hinter dem doch auch nur wieder eine Dachkammer lag. Tiefe Schwermut wurde durch den Gedanken noch vertieft, daß das alles die Strafe für meine Sehnsucht sei, einmal durch das Loch hinter die unendliche Nacht sehen zu können, wie mein Vater.
Niedergeschlagen stieg ich die Treppe hinab, setzte mich in einem Gefühl der Ermattung auf die Bank unter unsere Haustür und starrte mit zerstreuten Augen auf die Straße.
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So stürzen Städte in uns ein; Welten der Seele veröden leise; Revolutionen stoßen neue Erden auf mit anderen Steinen und anderen Sonnensystemen in Traumwelten. Das knickt den gesunden Menschen nicht, der der Schacht seiner Erneuerung ist. Er lächelt ein kümmerliches Lächeln, er schaut mit den großen Augen einer bitterglücklichen Sehnsucht: manchmal ein noch nie gehörter