Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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dieser Erkenntnis noch nichts zu machen, sondern empfand bloß eine große, glückvolle Unruhe bei diesem Fremd- und Neuwerden in der Welt.

      Erst die Folgen des Zusammenbruchs der Brüderschaft fügten die Erlebnisse in den Fortgang meiner Entwicklung. Eines Tages gelangte die Nachricht in die Stadt, das Beinhaus neben der Kapelle auf dem Stachelberge sei von einem Frevler geschändet worden. Der Mensch hatte in der Nacht die Tür erbrochen und einen der dort aufgestapelten Totenschädel gestohlen. Der Klausner war von dem Gepolter erwacht. Als er auf den kleinen Platz vor die Wallfahrtskapelle trat, sah er aus dem Beinhaus einen Schatten huschen und mit wieselartiger Schnelle den Berg hinunterhasten. Der Gottesstreiter stürzte sich ins Kirchlein und wimmerte mit der winzigen Glocke seine Angst ins Tal. Die Stadt geriet in die größte Aufregung. Wir Schüler redeten von nichts als von dem geheimnisvollen Diebstahl auf dem Stachelberge und strömten in dicken Scharen an den Ort des Unheils, um mit angenehmem Gruseln uns alles genau anzusehen und für den Verwegenen grenzenlose Bewunderung zu fassen.

      Nur einer von allen blieb still, bleich und gleichgültig. Es war Hirzel, »der redende Brunnen«, das Haupt der »ewigen Brüder«. Er hatte vor Wochen seine Mutter, die er abgöttisch liebte, durch den Tod verloren. Seitdem war der sanfte Junge mit den tiefliegenden Augen schwermütiger und einsilbiger als sonst. Für alles hatte er nur ein bitter-schmerzliches Lächeln. Dieses Hinschmelzen wich nach und nach scheuem Brüten. Es kam vor, daß er, der sich immer einsam hielt, mitten im Gange stockte, in einen Winkel oder hinter eine Tür trat und mit den Augen irgend etwas aus dem Boden bohrte. Bei der letzten Neuaufnahme in unserem Geheimbund war er geradezu furchterregend gewesen. In Inbrunst und Qual hatte er den Strom verwilderter Worte wie aus kochendem Eingeweide hervorgestoßen, daß sein Atem wie rot und knisternd zwischen den Lichtern über das alte Hexenbuch hinfuhr. Dann sank er erschöpft auf die Grasbank und hielt lange den schwarzen Band mit so verzweifeltem Griff auf den Knien fest, als sei er ein Verspielter und dies seine letzte Rettung. Das grüne Waldlicht zitterte durch die Türspalte über sein blasses Gesicht. Aber er erhob sich nicht und ließ das Buch nicht los. Ich schlich mich als letzter davon und wagte nicht, ihn aus der finsteren Verzückung zu reißen.

      In der zweiten Nacht nach dem Diebstahl verschwand er. Als er am anderen Tage noch nicht wiederkam, mußte es dem Dirigenten der Anstalt gemeldet werden, der sofort eine peinliche Umfrage unter uns Schülern anstellte, aber nichts erfuhr, als daß Hirzel das letzte Mal auf dem Heimwege aus den Abendstudien gesehen worden war, die gemeinsam in den Klassen abgehalten wurden. Der Dirigent schrieb an Hirzels Vater, einen armen Weber tief im Gebirge. Ehe aber Antwort kam, drei Tage nach seinem Verschwinden, stolperte Hirzel in der tiefen Dämmerung über die Schwelle seiner Wirtsleute und brach dort zusammen. Man trug ihn aufs Bett, wo er kalkweiß ohne Lebenszeichen liegen blieb. Ein Böttcher desselben Hauses flößte ihm einige Löffel Kornbranntwein ein. Nach einigen Augenblicken hob er tastend den Arm und hauchte Worte. »Um Jesu willen, einen Bissen Brot«, flüsterte er kaum hörbar, sog eine Tasse Milch aus und verschlang die Butterschnitte. Unter Lachen und Weinen kaute er hastig und gierig wie ein halbverhungertes Tier, daß die Frauen, die ihn umstanden, sich vor Erbarmen wegwenden muhten. Dann streckte er sich im Bett, atmete einigemal vor Erschöpfung laut auf und schlief ein, indem er fortwährend lautlos die Lippen bewegte, wie es Menschen vor übergroßer Schwache tun. So schlief er Tag und Nacht und Macht und Tag. Die Mahlzeiten nahm er niedergeschlagenen Auges ein und antwortete auf keine Frage, die an ihn gerichtet wurde. Seine Kleider waren feucht, über und über mit Schmutz bedeckt und rochen dumpfsäuerlich, wie die Kluft von Waldarbeitern.

      Am vierten Tage erschien der Leiter der Anstalt wieder, um sich nach Hirzels Ergehen zu erkundigen und den Versuch zu machen, den Gründen seines geheimnisvollen Verschwindens nachzuforschen. Er hieß Malchow und war ein ängstlich-liebevoller Wann. Nun war er doppelt von Kummer beschwert, denn nicht nur, daß sein gütiges Herz unter dem Leiden Hirzels litt, es wurde noch von dem zweiten Lehrer bedrängt, der als Ordnungsathlet unter allen Umständen auf einer drakonischen Strafe bestand. Herr Malchow traf den Ausreißer schon außerhalb des Bettes, wie er am Fenster saß und mit stumpfem Auge hinaus-, aber auf nichts sah. Die Mitschüler mußten die Stube verlassen und hörten dann Malchows Stimme unausgesetzt und lange ohne Erfolg den Armen bedrängen. Endlich antwortete Hirzel, erst stockend und karg, dann fließend aber leise und vielfältig von Schluchzen unterbrochen. Er hatte den Totenkopf aus dem Stachelberger Beinhaus entwendet, war damit auf Umwegen, immer durch Wälder, auf den Kirchhof gewandert, wo seine Mutter begraben lag. Sie war gestorben, ehe er sie noch einmal lebend sehen konnte. Nun hatte er in der Nacht unter Anwendung von geweihter Kreide, geschwärzten Lichtern und mit Hilfe des Totenkopfes durch Anrufung und Beschwörung unterirdischer Geister die Abgeschiedene zitieren wollen, um noch einmal mit der über alles Geliebten zu sprechen. Aber der Geist der Verklärten war ausgeblieben. Da hatte Hirzel Totenkopf und Hexenbuch irgendwo im Walde verscharrt und war schmerzerfüllt, im Taumel des Hungers, weitergeirrt, nur von dem Drange beseelt, hinzusinken und zu sterben. Aber der Flor des Todes, der sich immer mehr vor seinen Augen verdichtete, führte ihn wieder an den Ort zurück, von dem er ausgegangen war, und als er die Glocken der Stadt in der Tiefe unter sich vernommen hatte, war die Sucht zu leben wieder in ihm erwacht.

      Tiefgebeugt und Tränen in den Äugen schlich Malchow davon. Hirzel aber lag auf seinem Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben und hob den Kopf nicht, den ganzen Abend und die ganze Nacht nicht.

      Schon am anderen Morgen war die ganze Stadt voll von der seltsamen Begebenheit, und der Stadtpfarrer machte sich auf die Beine, um im Interesse des Ansehens der Kirche und ihrer Heiligtümer die Relegation Hirzels von der Anstalt zu verlangen. Vergebens wandte Herr Malchow alles an, um den wohlgenährten, strengen Herrn dieser Verirrung kindlicher Liebe gegenüber freundlicher zu stimmen. Er erreichte nichts, als daß der Pfarrer Nitsche erklärte, die Angelegenheit mit seinen Confratres noch einmal zu besprechen und ihm innerhalb achtundvierzig Stunden Mitteilung von dem Ausfall der Konferenz zu machen. Kaum hatte Hirzel von diesem Stande der Dinge gehört, da setzte er sich im Bett auf. In seinem Gesicht lag Todesschrecken. Am Ende kam eine schmerzvolle Freude in seine Züge. Er zog sich an, sagte allen Adieu und erklärte, zum Anstaltsleiter zu gehen und alles aus der Welt zu schaffen. Nachmittags fand man ihn erschossen im Walde.

      – – – – – – –

      Wir litten alle unter schwerem Druck und undurchdringlichen Heimsuchungen, da der sanfte, liebe Hirzel plötzlich neben unseren Füßen in den Abgrund, in die Nacht versunken war, die alles umgibt. Unser aller Leben war durch seinen Tod unsicher und gefahrvoll geworden. Am unheilvollsten wirkte sein Sterben auf uns »ewige Brüder«. Wir getrauten uns nicht, einander mit dem geheimen Handdruck zu begrüßen, gingen uns aus dem Wege und litten doch gleicherweise unter der Furcht, es könne eines Tags wieder das Lichtstümpfchen auf dem Flurfenster der Anstalt stehen, durch das Hirzel die Versammlung im Walde anzeigte. Mit scheuem Blick streiften wir jeden Morgen die gefahrvolle Stelle und atmeten erleichtert auf, wenn sie leer war. Die Hand des Toten blieb in seinem Grabe, und so verliefen sich die Aufregungen unserer Seele gemach, und das Wässerlein unserer Tage schlüpfte wieder wie immer über die gewohnten kleinen Sorgensteine hin. Ja, wir wurden emsiger als vorher in der Erfüllung unserer Pflichten, einesteils, um dadurch die Entdeckung des Geheimbundes zu verhüten, andernteils, um wieder sicher zu werden in unserm Leben.

      Allein, es war seltsam, wenigstens erging es mir so; je höher die Mauer wuchs, mit der ich mich von jenen abenteuerlichen Abschweifungen trennte, um so unbehaglicher und leerer wurde es um mich und in mir. Wie schutz- und hilflos stand ich in meinem Leben, als ich nicht mehr von Zeit zu Zeit in der Grenzenlosigkeit mich verlieren, in der Buntheit mich vertauschen und in dem gruseligen Schatten rätselvoller Kräfte untertauchen konnte. Immer mißmutiger griff ich mich an dem engen Gestänge der Alltäglichkeit hin, mit einer noch nicht gerichteten Vergälltheit, von blinder Auflehnungssucht erfüllt. Wäre ich mir dazumal so rücksichtslos zu Leibe gegangen, wie ich es später oft fertigbrachte, so wäre es mir klar geworden, daß das Führen in mir zu einem energischen Schritt ausholte. Aber ich verstand mich nicht und ließ es immer bedrohlicher anwachsen. Eines Nachmittags sprang es mir fix und fertig ins Gesicht. Ich ging in einem Schwarme von Mitschülern die Schönauer Allee entlang, und

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