Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Vielleicht bin ich damals zerbrochen und habe seitdem das Leben anderer geführt.
Vielleicht auch habe ich mich doch noch gerettet, und war es nur in jenem verwehten Lichte, das am Horizonte der damaligen inneren Öde stand, immer machtlos tröstete und doch nicht ganz erlosch. –
Vielleicht auch täusche ich mich mit einer Täuschung. Denn es ist wohl ebenso unmöglich, sich restlos zu erkennen, als man mit seinem Blick sich auf den Grund seines Auges sehen kann.
... Kastner! Schläfst du? Ich kann nicht mehr. Komm, gib mir die Hand und geh'! – Wenn ich soweit bin, will ich dir schreiben.«
Ende der zweiten Nacht.
Die dritte Nacht
Acht Tage später, solange hatte Faber gebraucht, aus tiefer Aufregung zu innerer Entschiedenheit zu kommen, saß ich meinem Freunde in seinem Stübchen wieder gegenüber. Der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Die Dämmerung stand noch, wie ein hellgrauer, leidenschaftlicher Hitzedunst, draußen. Das Weiß der getünchten Hauswände und das Grün der Birken am fernen Grenzhügel glasteten aus diesem Verkochen des Tages mit krankhaft übertriebener Schärfe. Der Amselruf aus dem Walde der Feistelberge schnitt dann und wann als schrilles, hysterisches Gellen durch die Dämmerung und hinterließ eine beklemmte Stille, ein peinliches Aufhorchen. Durch die Kronen der Obstbäume ging der Wind ganz leise und geruhig und führte solch schwaches Rauschen vorüber, daß es nur in den stockenden Augenblicken zu vernehmen war, doch so verhaucht, daß man im Zweifel sein konnte, woher es rühre. Es schien auch durch das Haus zu wehen, über die Stiegen hinauf und hinab, an der Tür vorbei. Faber hob den Kopf und lauschte hinaus auf den Gang. »Hörst du?« fragte er dann gedämpft, »es schleichen draußen Kleider über die Stufen, stehen gebauscht vor unserer Tür und streifen über den Boden.«
»Ich würde das für die Laute des leisen Windes halten«, sagte ich.
Er lächelte und zuckte mit den Achseln.
»Nun, wir können uns ja überzeugen«, sprach ich und erhob mich, um zu gehen und durch die Tür zu blicken.
Aber er streckte abwehrend den Arm aus. »Ach nein, laß nur«, sagte er gütig. »Mag das Mädchen immer horchen. Wir wollen sie nicht beschämen.«
Dann senkte er den Kopf, und indem er die Diele entlang sah, sprach er versonnen mehr zu sich als zu mir: »Übrigens ist es seltsam, daß wir oft zu hören meinen, was wir denken. –
Verwandelt die Natur uns, oder verwandeln wir das Gesicht und den Laut der Dinge?« Er hob das Gesicht wieder, das er über seine gelassen gefalteten Hände geneigt hatte. »Wenn man darin klar entscheiden könnte, wäre dem Menschen der größte Teil schwerster Verantwortlichkeit genommen. So oder so. Denn nur die Sicherheit, alles oder nichts zu vermögen, wäre die wahre Lebensfreiheit. So kommen wir in der Empfindung, als Geschobene oder Abgleitende wirken zu müssen, nie zu einem klaren Bilde von uns und bei Welt. Und wenn nicht dieser unbeirrbar leise Ruf stillster Stunden in mir lebte, dieses tiefste, geheimnisvolle Lied wäre, vor dem es kein draußen und drinnen, kein oben und unten gibt, ich weiß nicht, wohin mich die Verfinsterungen dieser letzten Tage geführt hätten. Ein Hoffen, das so unzerstörbar ist, weil es gar so unbegreiflich erscheint, lockt uns aus Dunkel durch Nächte und steht doch so ferne wie die Morgenhelle des Frühlings um drei Uhr nach Mitternacht. Aber doch liegt in ihm jene grandiose Macht unserer Seele, die imstande ist, das Stückwerk dieses Lebens zu einer notwendigen, heiligen Angelegenheit des Weltalls umzuschaffen. Denn das Leben, wie es sich unter unseren Händen bildet, erfüllt nie alle Forderungen. Mancher Wunsch hat eine schwache Brust, schreit sich vor der Zeit krank und stirbt mit offenem Munde. Wenn dann zufällig seine Erfüllung kommt: ein Glück, ein Wissen, ein Besitz, so weht einen nur Trauer an, denn es erscheint plötzlich eine verlorene Zeit, die schneller dahinlief, lauter auftrat und kecker lachte. Dann bepackt man die Erinnerung mit dieser verspäteten Erfüllung und schickt die gute Frau hinaus auf die unendlichen Friedhöfe der Seele, die rückliegende Zeit, und heißt sie, das unvermutete Geschenk dort am Grabe eines ungebärdigen, frühverstorbenen Wunsches niederlegen.
Doch was nutzt es?
Der Zwang des Blutes liegt über jedem Menschenleben. Geschehnisse regeln den Gang dieser geheimnisvollen Uhr, die in der unverantwortlichen Kinderzeit, wohl gar vor der Geburt über uns hereinbrechen. Der »freie Wille« ist nichts als der zu spät erscheinende Doktor, der an dem Bette des Kranken irgendein unheilbares Leiden konstatieren kann. Denn das Schicksal kennt keine Diät. Auf irgendeine Weise sind alle Menschen Krüppel.
– – – Wie oft habe ich dieses Delirium halber Wahrheiten durchgemacht! – Aber wenn man ins Reden kommt, arbeitet man wie eine schlecht gestellte Mühle, die ganze Körner, feines Mehl, Schrot und Schalen durcheinander wiedergibt, und geht meine Erzählung so weiter, wirst du nicht klar, Kastner, und mir hilft es nichts.
Darum muß ich schon wieder hübsch chronologisch verfahren.
Die Aspirantenprüfung, das Aufnahmeverfahren in das Lehrerseminar meiner Vaterstadt, war vorüber, und die große Schar der Vielgezwickten saß voll Spannung in einem kleinen Klassenzimmer zusammengepfercht. Der tiefe Abend sog immer mehr Licht ein, und schon glich die Reihe der jungen Ahornkronen vor dem Seminargebäude einem Zug dichter Wolkenballen, die hart am Boden lagen. Man hatte mich arg hin und her geschüttelt und gesiebt, und ich hockte auf meinem Platz, von einer Niedergeschlagenheit erfüllt, die doch im Tiefsten nicht ganz ernst war. Denn, daß ich mich im Rechnen so unsäglich taperig benommen und endlich zur Verzweiflung des Herrn Malchow das Viertel von 766 nicht mehr herausgebracht hatte, belastete mich vor allem mit einer bitteren Verfinsterung aus verletztem Stolz, weil einige über mich gelacht hatten, als sei ich ein Blödling. Und ich begann das geduckte Geplauder der vielen jungen Menschen um mich unausstehlich zu finden, die in dem tiefen Dunkel unnatürlich aufgedunsene Köpfe hatten. »'s wird, was wird, und wenn's ein Entrich wird!« schrie plötzlich ein Übermütiger aus dem Hintergrunde, aus der Gegend des Kleiderrechens, und brach in ein Gelächter aus, in das die meisten wie erlöst einstimmten. In diesem Augenblick wurde die Tür vom erleuchteten Korridor aus geöffnet. Die Helle blähte sich wie ein roter Vorhang in das Dunkel, und eine grillige Männerstimme lief irgend etwas herein. Dann prallte die Tür wieder zu. Von den ersten Bänken aus wurde die Aufforderung zur Ruhe weitergegeben, und alle saßen beengter als vorher. Aus ihren Körpern stieg eine schwere Wärme, daß es war, als atme man in der Nähe eines heißen Ofens. Mein Nebenmann, der bisher andauernd und hastig auf seinen Nachbar eingeredet hatte, saß, die Hände auf dem Pultbrett gefaltet, mausstill, wie ein ausgezankter Schüler. Es war ein dürftiges, banddünnes Bürschchen, eher ein Junge, und ich merkte, wie ihn jetzt, da er schweigen mußte, die Angst zusammenzog. Eben, als ich ihn mit einem Blick streifte, hob er das Gesicht zu mir und sagte tonlos: »Ich habe nur noch eine Mutter!« Dann starrte er wieder regungslos auf seine zusammengegriffenen Hände, die wie ein graues Häufchen vor ihm im Verfinstern lagen. Aber ich gab ihm auf seine Worte, die er auch gesprochen haben würde, wenn er mutterseelenallein gesessen hätte, keine Antwort außer einem Brummlaut, sondern überließ mich meiner Sorge um den Ausfall der Prüfung. Je genauer ich mir alle ihre Phasen ins Gedächtnis zurücklief, desto ungünstiger erschien die Rolle, die ich gespielt hatte, und gegen einen negativen Erfolg ließen sich keine Gründe aufbringen. Nun, dann wurde ich eben Post- oder Bahnmensch,