Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr

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Stunden in den Nacken, und wir trotten weiter mit wirren Gesichtern, tiefer in die Gosse, näher der Sandwüste der Gewöhnlichkeit, höher hinauf – – je nachdem.

      – – – – – – –

      Die Vorbereitungen zu meiner Übersiedlung in die Präparandenanstalt einer benachbarten kleinen Stadt drängten die Empfindung des neuen Zustandes in mir zurück.

      Mein Vater segnete mich zum Abschiede mit einem langen, stummen Blick. Dann drückte er mir stark die Hand und sprach: »So geh' also!« Nichts weiter; aber wie er es sagte, enthielt es eine ernste Mahnung; eine Drohung, einen Schlag von unten her, eine Übertragung seiner Kraft.

      Mit zuckenden Lippen murmelte ich irgend etwas, streckte ihm noch einmal die Hand hin und ging. Er blieb im Zimmer, und ich hörte noch, wie er mit langen Schritten umherzugehen begann.

      Meine Mutter ließ sich von dem Kutscher zwischen Betten und Kisten auf den Rücksitz eines alten Halbgedeckten pferchen. Ich kletterte neben den Rosselenker auf den Bock. Der kleine Mann lächelte mir mit seinem roten, viereckigen Gesicht zu, um das ein spärlicher Bart wie eine graue, mottenzerfressene Boa hing, und fuhr dann dem abgetriebenen Schimmel mit der Peitsche um die Ohren. Das Rößlein schlug ärgerlich mit dem Schwanze und schlenkerte auf geschwollenen Beinen davon. Die Kotbleche schwirrten; die Häuser rannten langsam zurück. Da war der Kirchhof, da die letzte Fabrik! Nun polterte das Gefährt über die Bohlenbrücke, daß es war, als falle ein Gebäude ein. Die hellgrünen Weiten der Felder, der Tanz einsamer Bäume an fernen Rainen verwandelte die geheime Kümmernis meines Herzens in frohes Schauen. Dann lief der leichte Wind mit meiner letzten Trauer davon. Ich kam mir ordentlich beneidenswert vor, so in die weite, schöne Welt hineinzufahren und sah zu meiner Mutter zurück. Die saß da und hatte große, reine Augen, über denen gar keine Brauen waren, ein stillseliges Gesicht, wie es Kinder haben. Darum fragte ich nicht, ob es schön sei, sondern betrachtete alles mit noch größerer Freude. Dorf um Dorf – Felder – Wälder – stundenlang so.

      Dann holperten wir über das löcherige Pflaster der kleinen Stadt, die wie ein grauer, verwitternder Ballen zwischen die Berge geklemmt war. Das wilde Wasser hatte ihn irgend einmal hierhergespült und in die Enge eingeteilt. Aus den weiten Wäldern, die die seinen Täler wie dunkelblauer Rauch füllten, waren dann Menschen hervorgekommen und hatten mit Axt und Säge sich aus ihm die ersten Hütten gebaut. Nun blühte die kleine Siedlung im Vermorschen und vermorschte im Blühen seit Jahrhunderten. Die Menschen kamen und verloren sich in den engen Straßenzeilen; aber die ernste Fröhlichkeit aus den ferneren Wäldern ging ihnen auf der kurzen Lebensausfahrt nimmer ganz verloren.

      Ich kam zu einer Witfrau, die in einem langen, kahlen Raume, dessen Wände rosa getüncht waren, außer mir noch sieben Bürschlein eine recht schmale Kost verabreichte. Acht Betten standen rundherum an den Mauern, vor oder neben jedem ein hölzerner Koffer für die wenigen Habseligkeiten. Bald war auch mein Ruhelager bereitet, und die Mutter streichelte die kanariengelbe Kattundecke mit den schwarzen, großen Punkten darüber.

      Der erste Hauch des Abends lag vor der Sonne. »Komm!« sagte meine Mutter, und als sie mich an der Hand nahm, fühlte ich, wie sie zitterte. Ich wußte, was kommen sollte, und mir schlug das Herz. Vorsichtig stiegen wir die dunkle Treppe hinab, meine Mutter vor mir.

      Unten drehte sie sich plötzlich um und breitete die Arme nach mir aus, und ich sank ihr an die Brust. Ihre Tränen rannen über meine Wangen. Dabei hörte ich sie hauchend reden, so vieles Liebe, Süße, Geheimste, wie es ein Mutterherz nur aufbewahren kann in seinen himmeltiefen Schächten. »Da.« sagte sie und machte sich los. »da, und wenn du Hilfe brauchst, hier gebe ich dir ein Rezept. Gebrauch' die Medizin, sie hilft in aller Not, mein lieber, lieber Junge!«

      Verschämt, mit einem rührend weichen Ernst um ihre schmalen Lippen, drückte sie mir einen einfachen Zettel in die Hand.

      »Geh' nicht mit, es macht dir's nur schwerer. Noch einmal, Gott mit dir, Junge!« sprach sie schnell, küßte mich noch einmal und war verschwunden. Noch lange stand ich da an der dunklen Treppe mit dem Zettel in der Hand und wußte nicht warum. Endlich kam ich zu mir und schlich in den Hof, wo eine kleine Laube stand. Dort entfaltete ich das Papier. In großen Kinderbuchstaben hatte meine Mutter mit einem Zimmermannsbleistift darauf geschrieben: Oh, du heiligstes Herz Jesu, du süßeste Mutter Gottes, Maria, steh' mir bei! Ein Vaterunser und Ave Maria.

      Droben hörte ich die Jugend meiner neuen Kameraden lärmen. Das Raunen des Abends bewegte die springenden Knospen der Bäume; die Glocken der Stadt sangen in das blasse Gold des leise sterbenden Lenztages hinein. Mir ward es von kommenden Tränen grau vor den Augen. Aber ich sagte mir, ich sei nun allein, auf mich selber gestellt, da schicke es sich nicht wie ein Mädchen zu weinen. Den Zettel barg ich, sorgsam gefaltet, in meinem Taschenbuch und ging hinauf in die Stube.

      Noch einmal wurde ich in die Demut und gesegnete Einfalt meiner Kindheit zurückgeführt. Hinter dem Wall rüder Tollheit, hinter dem Gewölk bitterer Erfahrungen hatte sie geschlafen wie eine Rose. Ihr Duft ward noch einmal wach. Von dem Herzen und den stillen Augen meiner Mutter entzaubert, strömte über mich der alte Glaube, die bedingungslose Hingabe, die Selbstentäußerung Gott und der Kirche gegenüber. Gerade in der ersten Zeit der Fremdheit unter meinen neuen Genossen und in der Fremde bildete dies fast meinen einzigen Halt. Ein wenig mißtrauisch bewegte ich mich unter meinen Mitschülern und nahm unter der Maske frühreifer Überlegenheit nur von fern und außen Teil an den Ausgelassenheiten, durch ein hingeworfenes Wort, ein fröhliches Krümmen der Lippe, oft nur durch eine Gebärde. Ich muß sagen, dieses Bescheiden, das eigentlich ohne Absicht über mich gefallen war, aber doch von dem Trotz festgehalten wurde, weil ich bemerkte, welche Vorteile es mir brachte, kam mich leidenschaftlichen, aktiven Menschen hart an und vergrößerte anfangs die Schwermut, wenn ich mutterseelenallein des Sonntags nachmittag in der kahlen Stube vor meinem Buche saß, während die andern alle im Freien umhertollten. Aber drückte es mich gar zu herb ins Herz, dann riegelte ich die Tür ab, kniete an das Fenster, das nach den fernen Bergen meiner Vaterstadt sah, zog den Zettel meiner Mutter hervor und betete für meine Eltern.

      Mit einem kecken Sprung gelangte ich dann mitten in das Leben, das meine Mitschüler führten, in diese phantastische, abenteuerlich-heldenhafte Springprozession. An einem spätsommerlichen Regentage saß ich an einem Fenster unserer Bude und hielt, ohne zu lesen, ein Buch auf meinen Knien. Die Schüler der oberen Klasse Kaliske, Brandt und Rieder standen in leisem Geplauder am andern Fenster, vor dem Bett Brandts, der durch eine stoische Art in den Geruch eines Philosophen gekommen war. Die beiden Brüder Schick, Söhne eines Försters, saßen am Tisch einander gegenüber. Der Ältere, gelangweilt und bitter, lag, den Kopf in die linke Hand gelümmelt, halb über den Tisch und schlug, von Zeit zu Zeit einen derben Fluch und eine Verwünschung auf seinen geizigen Vater ausstoßend, mit der Faust auf den Tisch, um dann wieder für lange in dumpfe Verzweiflung zu verfallen. Sein jüngerer Bruder, dem wegen des Stockschnupfens immer der große fette Mund sperrangelweit aufstand, betrachtete ihn mit einer Miene, die halb Kummer, halb Ärger ausdrückte, schweigsam und gründlich. Endlich sagte er einfach und bestimmt: »Du bist ein Esel!« Das Spiel wiederholte sich zwischen beiden jedesmal, wenn die gemeinsame Kasse bis auf den letzten Heller erschöpft war, und jedesmal auch stürzte der Ältere, durch die Beleidigung aufgebracht, ohne Kriegserklärung auf den mit dem Stockschnupfen und wälzte sich mit ihm im stummen, ergrimmten Kampf auf dem Boden umher, bis der Jüngere blaß gewürgt und zerzaust dalag. Der schwermütige Emil nahm dann in der Haltung des Propheten Jesaias den früheren Platz am Tisch ein und verfiel in sein altes Brüten. Der Stockschnupfen-Gustav trödelte mit zuckender Lippe und bösen, weiten Augen seine Kleider zurecht und verließ mit allen Zeichen tiefster Verachtung die Stube. Ehe er die Tür schloß, kehrte er sich noch einmal zurück und rief seinem Bruder als lieblichen Scheidegruß das Wort »Luder« zu. Ohne sich zu erheben, mit einem fürchterlichen Schmetterschlag auf die Tischplatte, jagte ihn der in eilige Flucht. Belustigt hatten wir alle den brüderlichen Zweikampf verfolgt, nun kehrte jeder wieder zu seinem Interesse zurück. Am Bette Brandts floß das

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