Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr страница 163
Zuletzt gingen diese Gesichte in einem Menschen um, den als kleines Kind der Hemsterhuser Stellmacher eines Morgens auf seiner Haustürschwelle gefunden hatte. Der kinderlose alte Mann nahm sich des armen Wurmes an, dessen sich wohl landfahrende Leute auf diese Art entledigt hatten, gab ihm den Namen Josef Niemand und setzte mit seinem betagten Weibe alles daran, einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen. Aber all ihre Mühe war umsonst. Je älter der arme Niemand wurde, desto tiefer wuchs er in tausend absonderliche Grillen und Seltsamkeiten hinein. So behauptete er, das Wachsen der Finger- und Zehennägel als Sausen in seinem Körper zu spüren, lief allen Vögeln nach, um ihren Gesang zu belauschen, weil er vorgab, sie zu verstehen; redete zu den Bäumen wie zu den Menschen; horchte oft nächtelang auf die Sprache des Windes und betrachtete die Wandelgestalten der Wolken, als seien es tiefsinnige Bilder.
Obwohl alle über derartige Propheten lachten, war es doch unleugbar, daß das Volk fest daran glaubte, ein Kind aus dem Sintlingerhofe werde einst die getrennten Familien zusammenbringen, aber dabei selber den Tod finden.
Zweites Kapitel
Den Hemsterhuser Alb, so wurde Josef Niemand von allen genannt, hatte sein außerweltliches Gaukeln an dem Totenbette seiner Pflegeeltern spurlos vorbei bis gegen das dreißigste Jahr getragen. Längst war das kleine Haus des Stellmachers, in dem er sein scheues Leben geführt hatte, vermorscht und zusammengebrochen, und Niemand streifte als Vagabund herum, ohne doch weiter als nach Brederode und Querhoven zu kommen. Aus uneingestandener Furcht duldeten ihn die Bauern zur Nacht in einem Winkel des Stalles und am Tage in einer Ecke der Gesindestube.
In dieser Zeit kam Andreas Sintlinger mit kaum zwanzig Jahren in den Besitz des Hofes. Seinen Großvater hatte das Glöckchen unversehens früh abgerufen. Er war während der Ernte tot zusammengebrochen, als er sich eben in Wut auf einen widersetzlichen Knecht hatte stürzen wollen, und seinen Vater hatte die Trunkenheit auf nächtlicher Heimfahrt in einen tiefen Ziegeleitümpel gehetzt, wo er ertrank.
Andreas trat die Herrschaft auf dem Sintlingerhofe ganz im Sinne seiner Ahnen an. Am ersten Tage seiner Bauernschaft versammelte er das Gesinde und ließ die lange Feuerleiter über das hohe Schobendach hinauflegen. Dann ergriff er eine Stange, stieg bis an das Türmchen und stieß lachend die Glocke an, daß sie bestürzt und blechern über die Hügel hin schrie. Nun habe sie ihr Sprüchlein gemeckert, meinte er übermütig, und werde ihn jetzt wohl verschonen. Darauf setzte er sich mit seinen Leuten in die große Stube, ließ Gericht um Gericht auftragen und zechte und sang bis tief in die Nacht hinein.
Der tolle Jakob Sintlinger schien mit ihm wieder in den Hof gezogen zu sein. Wo einem Mädchen das Schürzenband locker saß, fand er sich als erster in der Dämmerung ein. Kein Schabernack gelang ohne ihn, jedem Spott lieh er seinen Witz. Auf den Festen war er der Anführer der Ausschreitungen, stiftete mit größtem Geschick Zerwürfnisse und ersäufte dann hohnlachend die übereilten Feindschaften in Strömen von Wein. Aber seine Tollheiten waren durch einen Zug der Ritterlichkeit verschönt, und was an anderen als Gemeinheit wirkte, erhielt durch sein Wesen das Aussehen leichtsinniger Verwegenheit. Nie verbrüderte er sich mit Trotteln, und wenn er von einem Zechgelage im Kreise handwerksmäßiger Saufbrüder aufstand, kam es vor, daß er ihnen den Rest seines Glases ins Gesicht goß und lachend davonging. Trotz dieser unaufhörlichen Explosionen, mit denen er geladen war, vernachlässigte er seine Wirtschaft nicht im mindesten. Sein kleiner Körper besaß die Unzerstörbarkeit einer stählernen Maschine. Offenbar brauchte er die Zügellosigkeit so notwendig wie andere Menschen die Ruhe, um sich von seiner Arbeit zu erholen. Kam er gegen Morgen nach Hause, so erhob er sich nach drei Stunden Schlaf so frisch, als habe er einen ganzen Tag lang geschnarcht. Kaum konnten die Furchen hinterher, wenn er pflügte; das Korn sank schon vom Pfiff seiner Sense, und einmal, als ein in der ganzen Gegend berühmter Mäher bei einem Wettschneiden schon nach einer Stunde zwei Mannslängen hinter Andreas zurückblieb, wäre es um den kleinen Teufel bei einem Haar geschehen gewesen; denn plötzlich stürzte sich der riesenhafte Kerl, dem es ebensosehr um den verwetteten Taler als um den verlorenen Ruhm und den reichlichen Spott zu tun war, wie von Sinnen hinterrücks auf den Sintlinger, und wäre der nicht im letzten Augenblicke auf die Seite geflogen wie ein geschlagener Ball, so hätte ihn des anderen Sense ohne Besehen dem Totengräber vor die Tür geschoben. Die Zuschauer packten den Wütenden, und als er sich ausgeschäumt hatte, steckte ihm Andreas eine Wurst in die rechte Hosentasche und sagte, es sei ein gutes Kalbfleisch drin, die andere in die linke und versicherte, sie sei von einem ausgewachsenen Schöps, drückte ihm zwei Taler in die Hand und gestand, daß es bei der Wette nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, weil er, der Sintlinger, des anderen Sense verstohlen mit Gimpelfett eingerieben hätte. Solche liebenswürdige Streiche pflanzte er immer wieder neben den Bocksbart ärgerlicher Ausschweifungen, und die Bauernschaft der Umgegend wußte nie recht, wie sie sich zu dem Tollkopf stellen sollte: sie schwollen vor Entrüstung, strömten vor Entzücken über und schütteten sich vor Lachen aus. Insbesondere die Mädchen sahen in einem Gefühl, das aus Grauen, Bedauern und Verlangen gemischt war, aus den Fenstern, wenn der verwegene Wildfang auf seinem Gefährt durch ein Dorf raste. Aber er saß geborgen hinter seinen Pferdeschwänzen und hielt offenbar mehr von Schürzen und Scherzen als von Herzen. Bis er einst durch Brederode kam, einen Ort, etwa eine halbe Wegestunde von Hemsterhus. Dort sah er an einem Frühlingsmorgen die schöne Johanna Klim, die Tochter des Vorstehers von Brederode, auf der Wiese neben dem Wege beim Bleichen der Leinwand. Sie ging neben der grauweißen langen Bahn hin und überbrauste aus einer Gießkanne das Gewebe, an dem sie an den Winterabenden hatte spinnen helfen. Der mailiche Sonnenwind fuhr dann und wann gegen den tausendfältig zerteilten Wasserstrahl und stäubte ihn in silbrig schimmernden Tropfen um das blonde, zierliche Mädchen, daß sie mehr einer himmlischen Erscheinung im verklärten Licht als einem Menschen glich. Kaum hatte das Andreas Sintlinger einmal gesehen, da riß er die Pferde zurück und wartete mit angehaltenem Atem, bis das Schimmern wieder um die Jungfrau sprühte, dann stieg er wie im Traume vom Wagen, band die Pferde an einen Baum und saß und starrte verzückt auf das Wunder, das unversehens in seinem Leben aufgegangen war. Als das Mädchen das rätselhafte Betragen des tollen Menschen gewahrte, entsank ihrer Hand vor Schrecken die Kanne, denn es konnte doch immer sein, daß er, noch taumelig von durchzechter Nacht, am Graben sitze und auf einen Schabernack sinne, den er ihr antun könne. Aber sie faßte sich doch in dem Gedanken, daß sie niemals gegen den jungen Bauer, auch im geheimen nicht, etwas Böses gesprochen habe, ergriff die Kanne, überschaute scheinbar ruhig ihre Arbeit und schritt den Rain hin furchtlos auf ihn zu, um über den Weg in den väterlichen Hof zu kommen. Als sie sich ihm näherte, pflückte er eilig einige Blumen, erhob sich und ging ihr entgegen. Schon in einiger Entfernung sah sie, daß das Feuer in seinen tiefbraunen, großen Augen und das rote Lodern über das ganze Gesicht hin von einer anderen Art Trunkenheit herrühre und bedauerte doppelt ihre Vermessenheit. Schon standen sie Blick in Blick einander gegenüber. Sie sah, wie der Mann, von einem inneren Sturm geschüttelt, am ganzen Körper bebte, die Blümchen bittend ihr hinreichte und hörte ihn unverständliche Worte durcheinanderstammeln. In höchster Verwirrung wollte das Mädchen an ihm vorbeischlüpfen. Da zuckte eine jähe Wildheit durch den Sintlinger, daß er augenblicks gleich einem Eisenpfahl in die Erde gerammt vor ihr stand. Mit leidenschaftlicher Entschiedenheit bat er sie um die Erlaubnis, ihr die Blumen an die Brust stecken zu dürfen. Wenn sie sich dem widersetze, so könne er sie ja nicht zwingen. Aber er werde dann geradeswegs in Karriere mit seinem Gespann in den Steinbruch jagen, der hinter Brederode hart neben der Straße in den Hügel getrieben sei. Wenn Andreas auch nicht blaß bis in die Zähne geworden wäre, sie wußte bestimmt, daß er in seiner Verwegenheit Wort gehalten hätte, und duldete, worum er sie