Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Leonore wand sich scheu an all diesen Sachen vorüber und wenn ihr Mann mit einem Blick, der zur Bewundrung aufforderte, stehen blieb, so fühlte sie zaghaft mit den Fingern auf das Gerät und flüsterte: „Ach!“ — „Nein aber!“ — „Nein, nein!“
Die letzte Stube war verschlossen. Als Joseph sie öffnete, drang ein muffiger Dunst, eine schwere Stickluft daraus hervor.
Beide blieben auf der Schwelle stehen, der Tuchmacher mit einer komischen Ehrfurcht auf seinem feisten Gesicht.
„Nu?“ frug er nach einem langen Stillschweigen in gekränktem Tone.
„Was is n das!“ begann Leonore gehorsam, ein wenig verwirrt über diesen Vorwurf.
„Dås stammt vo meinem Urururgrußvater aus ‘m sechzehnten Jahrhundert. Der håt dås Haus gebaut. Er wår Ratsherr un a so går Borjemeester vo Altenrode.“
Leonore betrachtete nun alles genauer. Es waren abgegriffene, alte Stücke, von Würmern arg mitgenommen, der Überzug auf Sofa und Stühlen blaß und äußerst zerschlissen.
„Vo dat aus gehärt dås Haus zo unser Familje.“
„Eim sechzehnten Jahrhundert,“ redete Leonore mit einem eigentümlichen Tiefton und schüttelte voll Verwunderung den blonden Kopf. Sie hatte nur halb auf die Worte ihres Mannes gehört. Der Laut ihrer Stimme klang aus der Ferne ihres Inneren, von einer heimlich-sympathischen Macht hervorgebracht. Und je länger sie auf die alte Einrichtung hinsah, um so mehr ward ihr alles zu einer märchenhaften Geschichte, die sie einmal gewußt in früher Kindheit und lange vergessen hatte, lange . . . . lange . . . .
„. . . lange“, murmelten ihre Lippen halblaut. Der Mann dachte, es sei eine Antwort auf seine Worte, sagte ein gewichtiges „Jaja!“ schloß die Thür wieder zu und geleitete sie hinaus auf den Flur.
„Då driba,“ wies er quer über den Flur auf eine Reihe von Thüren, „is de Wolle, de Farbe, de Zuthåt un de fertige Wåre — komm!“
„Nein zeig mr das ein andermal!“ sagte sie gereizt.
Sie waren den Flur hingeschritten und an der Bodenstiege angekommen, die in ihn mündete. Ein dämmeriger Schatten floß herunter.
Als Joseph sie hinaufführen wollte, wehrte sie ängstlich: „Nein, Joseph, nein!“
„Na, komm auch schonn, kindsche Liese. Dås frißt dich nie uf. Ich bin jo derbeine.“
„Nein, heite nie, ein andermal.“
„Nu, do sieh ‘ch åch wingste amål nuf.“
Und sie that einen scheuen Blick in den halbdunklen Raum.
„Då håt‘ ei Kista und Kåsta noch viel ales Gelumpe,“ sagte er geschmeichelt und wandte sich zum Abstieg.
* * *
Aber dieser Rundgang nützte sie doch auch nichts. Sie kam nicht zur Herrschaft über ihre neue Lage. Noch immer ängstigte sie die Höhe und der Reichtum der Räume; die geraden, breiten Fluchten, die jeden spielenden Verkehr zurückwiesen; das kollernde, lange Echo, das jeder laute Schall wachrief und das dann beunruhigend bis in die fernste Zeit ihres Innern zurücklief, sich aber nie friedlich verlor, sondern die Aufgeregtheit bis in die Weiten ihrer raumlosen Seele trug.
Und ihre Unruhe wuchs. Ihr Trippeln ward noch kürzer, ihre Stimme in der Tiefe ihres Klanges wie eingezwängt.
„Wås sol ich doch macha, Mutter!“ frug sie bekümmert in der kleinen, niedrigen Stube, wo sie den Mut zum unverfälschten Dialekt wiederfand. „Ålls is a so fremde, un gruß un weit. s liegt mr wie Blei ei a Bän’n. Åm liebsta mecht ich mich hinsetza un senna, a so recht eis Bloë nei.“
„Ich weß schon wie de bst, ‘Mädl. Gell ock, de Hände of de Scherze un trama, wie de’s åls Kend gemacht håst. –Dat werds eim Leben nie besser. A so wås zwiogt ma åm Besta mit‘m Besm, mit‘m Håder, ei dr Kechascherze un de Röcke rufgeschwänzt. — Un ds wil ich dr noch sagen: Verdirb der deinen Mån nich. Auf Händen mußt du den tragn wejen dem Glecke, dåß er dich armes Ding genumma håt.“
Nun erfüllte Leonore das Haus mit ihrem lauten Fleiße und brachte durch ihre eiligen Bewegungen Leben in die stillen, ernsten Räume. Sie durchmaß sie mit ihrer äußeren Kraft und drang mutig in die geheimsten Winkel. So ward ihr alles nach und nach bekannt. Allein, wenn sie dann still saß nach der Arbeit, so hatte sie doch die Empfindung, als sei sie nur fluchtartig durch alles hingeeilt und eine wollüstige Furcht überkam sie, daß sie seiner hemmenden Gewalt entgangen sei. Diesem regungslosen, fremden Bann entronnen, trank sie in tiefen Zügen die Wunder ihrer Persönlichkeit. Als ob, von lästigem Zwange befreit, etwas unwiderstehlich und doch mit zitternder Scheu aus ihr herauswachsen wolle, ganz, ganz hoch und breit in wunderbaren Farben, mit wallenden, schönen Tönen.
Dann heftete sie wohl gespannt den Blick auf die Thür, die bald aufgehen und das Überraschende hereinlassen müsse.
In einem solchen Moment fiel ihr plötzlich ein Kinderliedchen ein, das sie als ganz kleines Mädchen gelernt hatte. Sie sang es mit ihrer dünnen, weichen Vogelstimme, anfangs noch schüchtern, dann immer tiefer und voller, recht aus innerster Seele heraus, zuletzt ganz lang hinvibrierend.
Solange der Ton wiederzitterte in der stehenden Luft um sie, war ihr heimlich. Allein jener blinde, große Drang, der sie wie innerlich auseinanderspannte, kam doch wieder. Eine tiefe, geheimnisvolle Pein erfüllte sie, gegen die sie sich nur wehren konnte mit dem fiebernden Regen ihrer Glieder, als mache sie dadurch die fühlende Wand, gegen die es von innen drängend anwuchs, stumpf, empfindungslos.
Ihr Mann aber sah in ihrem Ringen nichts als die häusliche Tüchtigkeit. Sein Schritt wurde noch behaglicher und länger; er trug sein großes Haupt noch stolzer und saß noch breiter in sicherer Herrschaft.
In ihrer Ratlosigkeit drängte sich Leonore dicht an ihn, in den ruhigen Schatten seines breiten Wesens.
Die gleichmäßigen Wellen seiner Seele fluteten herrschend in sie.
Ihr bebender Leib empfing demütig seine erste Frucht.
————
VI.
Wie das Linnen, in dem sie lag, weiß und welk, immer im schwachen Zittern ihres letzten Hauches lag dann Leonore. Sie verlangte gar nicht, das Kind zu sehen. Und als man ihr nach Tagen den großen, starken Jungen brachte, schaute sie mit großen, verwunderten Augen auf ihn und nickte stumm: „August war’n man heeßa lå‘n“, sagte der glückliche Vater. „Wås er für Hände håt! Un wenn er erscht s Patschel ballt! Wie ein Holzhacker packt er zu.“
„Weg, thut ihn weg! — Ich kann’s nie hören! ‘s zerreißt mich!“ rief Leonore und hielt sich die Ohren mit dem Deckbett zu.
Kopfschüttelnd