Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des »Propagierens« das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen, rein anarchistischen Vorstellung aus, dß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen »beschlossen« oder auch »verboten« werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche »für alle Fälle« zusammengeklappt bereit halten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann. Zwar nehmen gerade die Gegner des Massenstreiks für sich das Verdienst in Anspruch, den geschichtlichen Boden und die materiellen Bedingungen der heutigen Situation in Deutschland in Betracht zu ziehen, im Gegensatz zu den »Revolutionsromantikern«, die in der Luft schweben und partout nicht mit der harten Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten rechnen wollen. »Tatsachen und Zahlen, Zahlen und Tatsachen!« rufen sie wie Mr. Gradgrind in Dickens' »Harte Zeiten«. Was die gewerkschaftlichen Gegner des Massenstreiks unter »geschichtlichem Boden« und »materiellen Bedingungen« verstehen, sind zweierlei Momente: einerseits die Schwäche des Proletariats, anderseits die Kraft des preußisch-deutschen Militarismus. Die ungenügenden Arbeiterorganisationen und Kassenbestände und die imponierenden preußischen Bajonette, das sind die »Tatsachen und Zahlen«, auf denen diese gewerkschaftlichen Führer ihre praktische Politik im gegebenen Falle basieren. Nun sind freilich gewerkschaftliche Kassen sowie preußische Bajonette zweifellos sehr materielle und auch sehr historische Erscheinungen, allein die darauf basierte Auffassung ist kein historischer Materialismus im Sinne von Marx, sondern ein polizeilicher Materialismus im Sinne Puttkamers. Auch die Vertreter des kapitalistischen Polizeistaats rechnen sehr, und zwar ausschließlich mit der jeweiligen tatsächlichen Macht des organisierten Proletariats, sowie mit der materiellen Macht der Bajonette, und aus dem vergleichenden Exempel dieser beiden Zahlenreihen wird noch immer der beruhigende Schluß gezogen: die revolutionäre Arbeiterbewegung wird von einzelnen Wühlern und Hetzern erzeugt, ergo haben wir in den Gefängnissen und den Bajonetten ein ausreichendes Mittel, um der unliebsamen »vorübergehenden Erscheinung« Herr zu werden.
Die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hat längst das Humoristische der polizeilichen Theorie begriffen, als sei die ganze moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer handvoll gewissenloser »Wühler und Hetzer«.
Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger »Revolutionsromantiker« und ihrer »Propaganda des Massenstreiks« zu warnen; oder wenn auf der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen inszeniert wird, die sich durch irgendwelche »vertraulichen« Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der Gewerkschaften um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland betrogen glauben. Käme es auf die zündende »Propaganda« der Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man – wie ich bereits im März 1905 in der »Sächs. Arbeiterzeitung« hervorgehoben habe – so wenig daran, den Massenstreik zu »propagieren« oder selbst zu »diskutieren« wie in Rußland. Und die vereinzelten Beispiele von Beschlüssen und Abmachungen des russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aus freien Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuch im August dieses Jahres nach der Duma-Auflösung, sind fast gänzlich gescheitert. Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, dß der Massenstreik nicht künstlich »gemacht«, nicht ins Blaue hinein »beschlossen«, nicht »propagiert« wird, sondern dß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.
Nicht durch abstrakte Spekulationen also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks, sondern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderen Worten: nicht durch subjektive Beurteilung des Massenstreiks vom Standpunkte des Wünschbaren, sondern durch objektive Untersuchung der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte des geschichtlich Notwendigen kann das Problem allein erfßt und auch diskutiert werden.
In der freien Luft der abstrakten logischen Analyse läßt sich die absolute Unmöglichkeit und die sichere Niederlage, sowie die vollkommene Möglichkeit und der zweifellose Sieg des Massenstreiks mit genau derselben Kraft beweisen. Und deshalb ist der Wert der Beweisführung in beiden Fällen derselbe, nämlich gar keiner. Daher ist auch insbesondere die Furcht vor dem »Propagieren« des Massenstreiks, die sogar zu förmlichen Bannflüchen gegen die vermeintlichen Schuldigen dieses Verbrechens geführt hat, lediglich das Produkt eines drolligen Quiproquo. Es ist genau so unmöglich, den Massenstreik als abstraktes Kampfmittel zu »propagieren«, wie es unmöglich ist, die »Revolution« zu propagieren. »Revolution« wie »Massenstreik« sind Begriffe, die selbst bloß eine äußere Form des Klassenkampfes bedeuten, die nur im Zusammenhang mit ganz bestimmten politischen Situationen Sinn und Inhalt haben.
Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine Form der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu machen, mit dieser »Idee« hausieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige aber auch ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation machen wollte. Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen und den Bedingungen des Klassenkampfes bedeutet. Es zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften Intelligenz der deutschen Proletariermasse, dß sie sich – ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen,