Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg

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Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg

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und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen und ökonomischen Daseins zum Bewußtsein kam, das sie Jahrzehnte in den Ketten des Kapitalismus geduldig ertrug. Es beginnt daher ein spontanes allgemeines Rütteln und Zerren an diesen Ketten. Alle tausendfältigen Leiden des modernen Proletariats erinnern es an alte blutende Wunden. Hier wird um den Achtstundentag gekämpft, dort gegen die Akkordarbeit, hier werden brutale Meister auf einem Handkarren im Sack »hinausgefahren«, anderswo gegen infame Strafsysteme, überall um bessere Löhne, hier und da um Abschaffung der Heimarbeit gekämpft. Rückständige, degradierte Berufe in großen Städten, kleine Provinzstädte, die bis dahin in einem idyllischen Schlaf dahin dämmerten, das Dorf mit seinem Vermächtnis aus dem Leibeigentum – alles das besinnt sich plötzlich, vom Januarblitz geweckt, auf seine Rechte und sucht nun fieberhaft, das Versäumte nachzuholen. Der ökonomische Kampf war hier also in Wirklichkeit nicht ein Zerfall, eine Zersplitterung der Aktion, sondern bloß eine Frontänderung, ein plötzlicher und natürlicher Umschlag der ersten Generalschlacht mit dem Absolutismus in eine Generalabrechnung mit dem Kapital, die, ihrem Charakter entsprechend, die Form einzelner zersplitterter Lohnkämpfe annahm. Nicht die politische Klassenaktion wurde im Januar durch den Zerfall des Generalstreiks in ökonomische Streiks gebrochen, sondern umgekehrt; nachdem der in der gegebenen Situation und auf der gegebenen Stufe der Revolution mögliche Inhalt der politischen Aktion erschöpft war, zerfiel sie oder schlug vielmehr in eine ökonomische Aktion um.

      In der Tat: was konnte der Generalstreik im Januar weiter erreichen? Nur völlige Gedankenlosigkeit durfte eine Vernichtung des Absolutismus auf einen Schlag durch einen einzigen »ausdauernden« Generalstreik nach dem anarchistischen Schema erwarten. Der Absolutismus muß in Rußland durch das Proletariat gestürzt werden. Aber das Proletariat bedarf dazu eines hohen Grades der politischen Schulung, des Klassenbewußtseins und der Organisation. Alle diese Bedingungen vermag es sich nicht aus Broschüren und Flugblättern, sondern bloß aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der Revolution aneignen. Ferner kann der Absolutismus nicht in jedem beliebigen Moment, wozu bloß eine genügende »Anstrengung« und »Ausdauer« erforderlich, gestürzt werden. Der Untergang des Absolutismus ist bloß ein äußerer Ausdruck der inneren sozialen und Klassenentwicklung der russischen Gesellschaft. Bevor und damit der Absolutismus gestürzt werden kann, muß das künftige bürgerliche Rußland in seinem Innern, in seiner modernen Klassenscheidung hergestellt, geformt werden. Dazu gehört die Auseinandergrenzung der verschiedenen sozialen Schichten und Interessen, die Bildung außer der proletarischen, revolutionären, auch nicht minder der liberalen, radikalen, kleinbürgerlichen, konservativen und reaktionären Parteien, dazu gehört die Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis und das Klassenbewußtsein nicht bloß der Volksschichten, sondern auch der bürgerlichen Schichten. Aber auch diese vermögen sich nicht anders als im Kampf, im Prozeß der Revolution selbst, durch die lebendige Schule der Ereignisse, im Zusammenprall mit dem Proletariat, sowie gegeneinander, in unaufhörlicher gegenseitiger Reibung bilden und zur Reife gedeihen. Diese Klassenspaltung und Klassenreife der bürgerlichen Gesellschaft sowie ihre Aktion im Kampfe gegen den Absolutismus wird durch die eigenartige führende Rolle des Proletariats und seine Klassenaktion einerseits unterbunden und erschwert, anderseits angepeitscht und beschleunigt. Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die inneren Widersprüche der Revolution, im Resultat beschleunigen und potenzieren aber damit nur ihre gewaltigen Ausbrüche.

      So erfordert das anscheinend so einfache und nackte rein mechanische Problem: der Sturz des Absolutismus einen ganzen langen sozialen Prozeß, eine gänzliche Unterwühlung des gesellschaftlichen Bodens, das Unterste muß nach oben, das Oberste nach unten gekehrt, die scheinbare »Ordnung« in einen Chaos und aus dem scheinbaren »anarchistischen« Chaos eine neue Ordnung umgeschaffen werden. Und nun in diesem Prozeß der sozialen Umschachtelung des alten Rußland spielte nicht nur der Januar-Blitz des ersten Generalstreiks, sondern noch mehr das darauffolgende große Frühlings- und Sommergewitter der ökonomischen Streiks eine unersetzliche Rolle. Die erbitterte allgemeine Auseinandersetzung der Lohnarbeit mit dem Kapital hat im gleichen Mße zur Auseinandergrenzung der verschiedenen Volksschichten wie der bürgerlichen Schichten, zum Klassenbewußtsein des revolutionären Proletariats wie auch der liberalen und konservativen Bourgeoisie beigetragen. Und wie die städtischen Lohnkämpfe zur Bildung der starken monarchischen Moskauer Industriellen-Partei beigetragen haben, so hat der rote Hahn der gewaltigen Landerhebung in Livland zur raschen Liquidation des berühmten adelig-agrarischen Semstwo-Liberalismus geführt.

      Zugleich aber hat die Periode der ökonomischen Kämpfe im Frühling und Sommer des Jahres 1905 dem städtischen Proletariat in der Gestalt der regen sozialdemokratischen Agitation und Leitung die Möglichkeit gegeben, die ganze Summe der Lehren des Januar-Prologs sich nachträglich anzueignen, sich die weiteren Aufgaben der Revolution klar zu machen. Im Zusammenhang damit steht aber noch ein anderes Ergebnis dauernden sozialen Charakters: eine allgemeine Hebung des Lebensniveaus des Proletariats, des wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen. Die Frühlingsstreiks des Jahres 1905 sind fast durchweg siegreich verlaufen. Als eine Probe aus dem enormen und noch meistens unübersehbaren Tatsachenmaterial seien hier nur einige Daten über ein paar der allein in Warschau von der Sozialdemokratie Polens und Litauens geleiteten wichtigsten Streiks angeführt. In den größten Fabriken der Metallbranche Warschaus: Aktiengesellschaft Lilpop, Rau & Löwenstein, Rudzki & Co., Bormann, Schwede & Co., Handtke, Gerlach & Pulst, Gebrüder Geisler, Eberhard, Wolski & Co., Aktiengesellschaft Konrad & Jarmuszkiewicz, Weber & Daehn, Gwizdzinski & Co., Drahtfabrik Wolanowski, Aktiengesellschaft Gostynski & Co., R. Brun & Sohn, Fraget, Norblin, Werner, Buch, Gebrüder Renneberg, Labor, Lampenfabrik Dittmar, Serkowski, Weszyski, zusammen 22 Fabriken errangen die Arbeiter sämtlich nach einem vier- bis fünfwöchigen Streik (seit dem 25. und 26. Januar) den neunstündigen Arbeitstag, eine Lohnerhöhung von 15 bis 25 pZt. und verschiedene geringere Forderungen. In den größten Werkstätten der Holzbranche Warschaus, nämlich bei Karmanski, Damiecki, Gromel, Szerbinski, Tremerowski, Horn, Bevensee, Tworkowski, Daab & Martens, zusammen 10 Werkstätten, errangen die Streikenden bereits am 23. Februar den Neunstundentag; sie gaben sich jedoch nicht zufrieden und bestanden auf dem Achtstundentag, den sie auch nach einer weiteren Woche durchsetzten, zugleich mit einer Lohnerhöhung. Die gesamte Maurerbranche begann den Streik am 27. Februar, forderte gemäß der Parole der Sozialdemokratie den Achtstundentag und errang am 11. März den Neunstundentag, eine Lohnerhöhung für alle Kategorien, regelmäßige wöchentliche Lohnauszahlung usw. usw. Die Anstreicher, Stellmacher, Sattler und Schmiede errangen gemeinsam den Achtstundentag ohne Lohnverkürzung. Die Telephon-Werkstätten streikten zehn Tage und errangen den Achtstundentag und eine Lohnerhöhung um 10 bis 15 pZt. Die große Leinenweberei Hielle & Dietrich (10 000 Arbeiter) errang nach neun Wochen Streik eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde und Lohnaufbesserung um 5 bis 10 pZt. Und dasselbe Ergebnis in unendlichen Variationen sehen wir in allen übrigen Branchen Warschaus, in Lodz, in Sosnowitz.

      Im eigentlichen Rußland wurde der Achtstundentag erobert: im September 1904 von einigen Kategorien der Naphthaarbeiter in Baku, im Mai 1905 von den Zuckerarbeitern des Kijewer Rayons, im Januar 1905 in sämtlichen Buchdruckereien der Stadt Samara (wo zugleich eine Erhöhung der Akkordlöhne und Abschaffung der Strafen durchgesetzt wurde), im Februar in der Fabrik kriegsmedizinischer Instrumente, in einer Möbeltischlerei und in der Patronenfabrik in Petersburg, ferner wurde eine achtstündige Schicht in den Gruben von Wladiwostok eingeführt, im März in der staatlichen mechanischen Werkstatt der Staatspapiere, im April bei den Schmieden der Stadt Bobrujsk, im Mai bei den Angestellten der elektrischen Stadtbahn in Tiflis, gleichfalls im Mai der achteinhalbstündige Arbeitstag in der Riesenbaumwollweberei von Morosow (bei gleichzeitiger Abschaffung der Nachtarbeit und Erhöhung der Löhne um 8 pZt.), im Juni der Achtstundentag in einigen Ölmühlen in Petersburg und Moskau, im Juli achteinhalb Stunden bei den Schmieden des Petersburger Hafens, im November in sämtlichen Privatdruckereien der Stadt Orel (bei gleichzeitiger Erhöhung des Zeitlohnes um 20 pZt. und der Akkordlöhne um 100 pZt., sowie der Einführung eines paritätischen Einigungsamtes).

      Der Neunstundentag in sämtlichen Eisenbahnwerkstätten (im Februar),

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