Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Es gibt allerdings auch andere Geistliche. Es gibt auch solche, die voll Güte und Mitleid nicht auf den Verdienst schauen und bereit sind, selbst zu helfen, wo sie Not sehen. Aber jeder gibt zu, daß das Ausnahmen sind, weiße Raben. Die Mehrzahl der Priester hat ein lächelndes Gesicht und untertänige Verbeugungen für die Reichen und Mächtigen, denen sie jedes Unrecht und jede Ausschweifung schweigend vergibt. Für die Arbeiter jedoch hat die Geistlichkeit meistens nur unerbittliche Schinderei und strenge Predigten gegen ihre „Anmaßung“, wenn sie sich ein wenig vor der unverschämten Ausbeutung der Kapitalisten schützen wollen.
Dieser ausdrückliche Widerspruch zwischen dem Vorgehen der Geistlichkeit und der christlichen Lehre muß jeden denkenden Arbeiter verwundern, so daß er unwillkürlich fragt: wie kommt es, daß die Arbeiterklasse bei ihrem Streben nach Befreiung in den Dienern der Kirche nicht Freunde, sondern Feinde findet? Wie kommt es, daß die Kirche heute nicht Zuflucht der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist, sondern Festung und Schutz des Reichtums und der blutigen Ausbeutung?
Um diese erstaunliche Erscheinung zu begreifen, muß man zumindest kurz die Geschichte der Kirche kennenlernen und sich ansehen, was sie einmal war und wozu sie dann im Laufe der Zeiten geworden ist.
II
Einer der schwersten Vorwürfe, den die Geistlichkeit den Sozialdemokraten macht, ist der, daß sie den „Kommunismus“ einführen wollen, das heißt gemeinsames Eigentum aller irdischen Güter. Es wird hier vor allem interessant sein festzustellen, daß die heutigen Priester, wenn sie gegen den „Kommunismus“ wettern, eigentlich gegen die ersten Apostel der Christenheit wettern. Denn gerade sie waren die leidenschaftlichsten Kommunisten.
Die christliche Religion entstand bekanntlich im alten Rom zur Zeit des größten Verfalls dieses einstmals starken und mächtigen Reiches, das damals das ganze heutige Italien, Spanien, einen Teil Frankreichs, einen Teil der Türkei, Palästina und verschiedene andere Länder umfaßte. Die Verhältnisse, die in Rom zur Zeit der Geburt Christi herrschten, waren den heutigen Verhältnissen in Rußland sehr ähnlich. Einerseits eine Handvoll Reicher, die in Müßiggang unermeßlichen Luxus und Überfluß genossen, andererseits eine riesige Volksmasse, die in entsetzlicher Not zugrunde ging, und über allem eine Regierung von Despoten, die, auf Gewalt und moralische Verkommenheit gestützt, unsagbaren Druck ausübte und das Letzte aus der Bevölkerung herauspreßte; im ganzen Reich Zerrüttung, äußere Feinde, die den Staat von verschiedenen Seiten bedrohten, eine Soldateska, die in wildem Übermut die arme Bevölkerung traktierte, öde und entvölkerte Dörfer mit immer unfruchtbarer werdenden Äckern, die Stadt aber, die Hauptstadt Rom nämlich, überfüllt von abgezehrtem Volk, das voll Haß an den Palästen der Reichen rüttelte, von Volk ohne Brot, ohne Obdach, ohne Kleidung, ohne Hoffnung und Aussicht auf irgendeinen Ausweg aus dem Elend.
Nur in einer Hinsicht besteht zwischen dem verfallenden Rom und dem heutigen Reich des Zaren ein großer Unterschied. In Rom gab es damals keinen Kapitalismus, d.h. es gab keine Fabrikindustrie, die durch die Arbeit von Lohnarbeitern Waren zum Verkauf produzierte. Damals herrschte in Rom Sklaverei, und die Adelsfamilien befriedigten ebenso wie die Reichen und die Financiers alle ihre Bedürfnisse durch die Arbeit von Sklaven, die sie aus dem Krieg mitgebracht hatten. Diese Reichen rafften allmählich fast den ganzen Grundbesitz in Italien an sich, indem sie den römischen Bauern das Land raubten, und da das Getreide kostenlos als Tribut aus den unterworfenen Provinzen herangeschafft wurde, wandelten sie ihren eigenen Grundbesitz in riesige Plantagen, Gemüsegärten, Weinberge, Weiden und Lustgärten um, bestellt von einem großen Sklavenheer, das durch den Stock des Aufsehers zur Arbeit angetrieben wurde. Des Landes und Brotes beraubt, strömte die Landbevölkerung aus der ganzen Provinz in die Hauptstadt Rom, fand hier aber keinen Verdienst, weil auch jedes Handwerk von Sklaven betrieben wurde. So sammelte sich in Rom allmählich eine riesige Volksmenge ohne jedes Eigentum an – ein Proletariat, das jedoch nicht einmal seine Arbeitskraft verkaufen konnte, da niemand seine Arbeit benötigte. Dieses Proletariat also, das vom Lande hereinströmte, wurde nicht wie heute in den Städten von der Fabrikindustrie aufgesogen, sondern mußte in hoffnungslose Not und an den Bettelstab geraten. Da eine solche Vorstädte, Straßen und Plätze Roms füllende Volksmasse, ohne Brot und Dach über dem Kopf, eine ständige Gefahr für die Regierung und die herrschenden Reichen war, mußte die Regierung irgendwie ihre Not lindern. Von Zeit zu Zeit wurden also aus den Regierungsspeichern Getreide oder gleich Lebensmittel an das Proletariat verteilt, um für eine gewisse Zeit sein drohendes Murren zu besänftigen, auch wurden kostenlose Spiele im Zirkus veranstaltet, um Gedanken und Gefühle des erregten Volkes zu beschäftigen. So lebte das ganze riesenhafte Proletariat in Rom eigentlich vom Betteln, nicht so wie heute, da das Proletariat im Gegenteil durch seine Arbeit die ganze Gesellschaft erhält. Damals in Rom lag jedoch die ganze Arbeit für die Gesellschaft auf den Schultern der unglücklichen, wie Arbeitsvieh traktierten Sklaven. Und in diesem Meer von Not und menschlicher Erniedrigung feierte eine kleine Anzahl römischer Magnaten wilde Orgien des Überflusses und der Ausschweifung. Einen Ausweg aus diesen ungeheuerlichen gesellschaftlichen Verhältnissen gab es nicht. Das Proletariat murrte zwar und drohte von Zeit zu Zeit mit Aufstand, aber die Klasse der Bettler, die nicht arbeiteten und nur von den Knochen lebten, die ihnen vom Tische der Reichen und des Staates zugeworfen wurden, konnte keine neue gesellschaftliche Ordnung schaffen. Die Volksklasse aber, die durch ihre Arbeit die ganze Gesellschaft erhielt, die Sklaven waren zu sehr erniedrigt, zersprengt, ins Joch gespannt, standen allzusehr außerhalb der Gesellschaft, von ihr abgesondert wie heute Arbeitsvieh von Menschen, als daß sie eine Reform der ganzen Gesellschaft hätten zuwege bringen können. Die Sklaven erhoben sich zwar von Zeit zu Zeit gegen ihre Herren, versuchten, sich mit Feuer und Schwert aus dem Joch zu befreien, aber das römische Heer unterdrückte am Ende immer ihre Aufstände, und sie wurden dann zu Tausenden ans Kreuz geschlagen oder völlig niedergemetzelt.
Unter diesen entsetzlichen Bedingungen der verfallenden Gesellschaft, wo es für die riesige Volksmenge keinen sichtbaren Ausweg gab, keine Hoffnung auf ein besseres Los auf Erden, begannen die Unglücklichen, diese Hoffnung im Himmel zu suchen. Die christliche Religion erschien den Verachteten und Elenden als eine Rettungsplanke, als Trost und Linderung, und wurde vom ersten Augenblick an die Religion der römischen Proletarier. Und entsprechend der materiellen Lage dieser Volksklasse begannen die ersten Christen, die Forderung nach gemeinsamem Eigentum – den Kommunismus – zu verkünden. Natürlich: das Volk hatte keine Mittel zum Leben, ging aus Not zugrunde, daher rief die Religion, die dieses Volk verteidigte, dazu auf, daß die Reichen mit den Armen teilen sollten, daß die Reichtümer allen gehören sollten und nicht einer Handvoll Privilegierter, daß unter den Menschen Gleichheit herrschen sollte. Das waren jedoch keine Forderungen, wie sie heute die Sozialdemokraten stellen, daß die Werkzeuge und überhaupt die Produktionsmittel allen gemeinsam gehören sollen, damit alle gemeinsam arbeiten und von ihrer Hände Arbeit leben können.
Die damaligen Proletarier lebten, wie wir sahen, nicht von ihrer Arbeit, sondern von den Almosen der Regierung. Darum verkündeten die Christen die Forderung nach gemeinsamem Eigentum nicht hinsichtlich der Arbeitsmittel, sondern der Lebensmittel, das heißt sie forderten nicht, daß Ländereien, Werkstätten, überhaupt Arbeitswerkzeuge allen gemeinsam gehören sollten, sondern daß alle miteinander Wohnung, Kleidung, Nahrung und ähnliche fertige Gebrauchsgegenstände des Menschen teilen sollten. Woher diese Reichtümer kommen, darüber machten sich die christlichen Kommunisten keine Sorgen. Die Arbeit blieb Sache