Der Krimi an sich. Jerry Cotton

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Der Krimi an sich - Jerry Cotton Kommissar Y

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krimibildende Kraft der Ohrfeige liegt dagegen noch vor uns.

      Nehmen Sie Bankier, nein, Banker, oder noch treffender, Bankster Gütenkron, den Chef der Gier-Bank, und nehmen Sie dazu seinen Geschäftspartner Kuttendreier vom Happy-Money-Hedge-Fonds, und lassen Sie Bankster Gütenkron mit der Gattin von Kuttendreier, einer geborenen von Schnaps aus der bekannten Rüdesheimer Dynastie derer von Schnaps-zu-Hochprozent, ein Weekend im Golf Resort North Sea Peace auf Sylt verbringen, wo Kuttendreier die beiden überrascht, und lassen Sie Kuttendreier, statt den Gütenkron im Affekt abzuknallen, dem Gütenkron eine Ohrfeige verpassen, die vom Finanzplatz London bis zur Wall Street homerisches Gelächter auslöst und den Lombardsatz ins Wanken bringt – das könnte doch der Beginn eines wunderbaren Krimis zu sein. Statt den Tatort durch die KTU untersuchen zu lassen, indem alle in weißen Overalls herumrennen und Schmauchspuren an der Hand von Kuttendreier sichern und Geschosse aus der Wand kratzen, und statt Kuttendreier die Frage aller Fragen zu stellen – »Wo waren Sie gestern abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, was der Kriminalassistent Harry wie stets übersetzt: »Ich meine, wo sind sie in der letzten Nacht gewesen, vor Mitternacht, zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, welche Fragen wiederum auf den Doc von der Gerichtsmedizin zurückgehen, der die Leiche am Tatort untersucht und gesagt hat: »Ich schätze, der Tod ist zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten«, was er aber stets mit dem Zusatz versieht: »Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen« – statt all diese Krimiödnis auszubreiten (und das in Sylt, wo all die Beautifuls zu dieser Zeit im Go-Go-Gärtchen Champagner saufen und sich gegenseitig falsche Alibis geben), könnten Sie einen Rachefeldzug des Gütenkron schildern, der es darauf anlegt, den Kuttendreier zu ruinieren, was wiederum voraussetzt, daß er am Leben bleibt und eben nicht zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht vom Leben zum Tode befördert wurde. Und so ein Bankster, der einen Mittelständler zur Strecke bringt (oder wäre es umgekehrt? Egal!) – das hätte schon etwas.

      Auch die reichhaltige Rechtsprechung um Straftatbestand der Beleidigung, § 185 StGB, bietet einen noch ungehobenen Schatz an Material, dessen Bearbeitung in Beleidigungskrimis eine reizvolle Aufgabe wäre. Ich komme darauf zurück

      Der französische Jurise François Gayot de Pitaval (1673-1743) veröffentlichte zwischen 1734 und 1743 eine zwanzigbändige Sammlung von »causes célèbres et intéressantes«. Friedrich Schiller gab eine vierbändige Auswahl der von Pitaval zusammengestellten Fälle heraus. Es kam zu Nachfolgeveröffentlichungen, so 1842-1890 »Der neue Pitaval« von Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis, so 1931 der »Prager Pitaval« von Egon Erwin Kisch und so 1963 ff. »Der neue Pitaval« von Herrmann Mostar und Robert Adolf Stemmle. Der letztere enthielt in vier Bänden Kriminalfälle aus den Bereichen Giftmord, Todesurteil, Raub und Betrug.

      Bekannte derartige Sammlungen von Kriminalfällen sind weiter etwa die 1808/11 veröffentlichten »Merkwürdigen Rechtsfälle« von Paul Johann Anselm von Feuerbach, dem Vater der modernen Strafrechtswissenschaft. 1858/62 veröffentlichte Avé Lallemant sein Werk »Das deutsche Gaunertum«. Und 1949 veröffentlichten Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner ihr Werk »Geschichte des Verbrechens«; es war das letzte Werk, das Gustav Radbruch kurz vor seinem Tod veröffentlichte.

      Das waren die Vorläufer der heutigen Krimis.

      III. Spannung

      Ein Krimi muß spannend sein. Aber was heißt das? Die Begriffe »Spannung« und »spannend« werden in unserer Zeit geradezu inflationär verwendet. Wenn in einem Unternehmen ein neues »Projekt« gestartet wird, das die Verlagerung der Produktion des neuen Bullshit Pepulators in das Niedriglohnland Lummernesien vorsieht, sind alle beteiligten BWLer und Consultants geradezu verpflichtet, dies als eine »spannende« Aufgabe zu bezeichnen, sofern sie sicht nicht im Aktenkeller in dem garantiert spannungsfreien Archiv der Firma wiederfinden wollen. Dabei frage ich: Ist es wirklich »spannend«, in ein Land zu ziehen, wo Kinder als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden und korrupte Verwaltungen einen Unternehmer vor Steuern und Umweltschutzauflagen bewahren?

      Der Begriff »Spannung« stammt aus Zeiten, in denen man Geschosse mit Geräten abfeuerte, die mit Muskelkraft bedient wurden. Schon in der Antike gab es Kanonen, die manuell gespannt wurden. Sie feuerten Steinkugeln ab, mit denen man massive Steinmauern zum Einsturz brachte. Im Mittelalter gab es Langbogen, die Pfeile bis zu einer Entfernung von 200 Metern mit einer solchen Wucht abschossen, daß eiserne Rüstungen von etwa 2,5 cm Dicke durchschlagen wurden. Zu sehen, ob das klappte, vor allem dann, wenn man als Mongole die Pfeile im vollen Galopp vom Pferedrücken aus verschoß und gepanzerte deutsche Ritter als Ziele dienten – das war fraglos »spannend«.

      Ein wenig abstrakter ausgedrückt bedeutet »Spannung«, daß ein Übel im Anmarsch ist und man wissen will, ob es eintrifft oder nicht. Das englische Wort dafür lautet »Suspense« (= »Gespanntheit«), welcher Begriff sich aus dem lateinischen »suspendere« (= aufhängen) ableitet und die Unsicherheit hinsichtlich eines künftigen Ereignisses bezeichnet. Trifft dann nicht das erwartete Ereignis, sondern etwas anderes ein, löst sich die Spannung auf. Alfred Hitchcock, der »Master of Suspense«, bezeichnete das als »Surprise Mystery«. Wenn Detektiv Knatterbumm unerlaubterweise, aber der Dramaturgie gehorchend (»Gefahr im Verzug«) in das Apartment des Serienmörders Hackmann eingedrungen ist und dort das Album mit den Fotos der von Haarmann gemeuchelten Opfer findet, so ist das mäßig interessant, aber noch nicht spannend. Die Sache ändert sich, wenn Mörder Hackmann unerwartet vorzeitig zurückkehrt und unten das Haus betritt. Assistent Harry, der für diesen Fall als Aufpasser im Auto vor dem Haus postiert wurde, und der Knatterbumm gegebenenfalls warnen soll, stellt fest, daß sein Handy im Auto keinen Netzempfang hat. Er springt aus dem Auto und fummelt verzweifelt an seinem Handy herum. Inzwischen ist Hackmann mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und nähert sich seiner Wohnungstür. Kantterbumm, immer noch ahnungslos, betrachtet derweil kopfschüttelnd die Bildergalerie der Opfer des Massenmörders. Die Spannung steigt. Hackmann steht jetzt vor seiner Wohnungstür, sucht den Schlüssel in der Manteltasche – findet ihn nicht. Die Spannung steigt und steigt. Eine kleine Hoffnung keimt. Hat der Mörder den Schlüssel vielleicht vergessen? Nein, die Hoffnung trügt. Er findet den Schlüssel in der Hosentasche, steckt ihn ins Schloß. Es ist dies der Augenblick, in dem ein messbarer Prozentsatz der Zuschauer die Spannung nicht mehr erträgt und zum Sommerfest der Volksmusik umzappt, wo Marianne und Michael sich gerade gegenseitig vorsingen, wie lieb sie sich haben. Die Tapferen umklammern ihre Fernbedienung mit schweißnassen Händen und sehen, wie Knatterbumm aufmerkt, das Album zuklappt und blitzschnell zur Wohnungstür huscht, wo er sich in den Winkel stellt, den die aufgehende Tür mit der Wand bildet. Hier ist er nicht sofort zu sehen. Mörder Hackmann tritt ein, bleibt stehen. Als erfahrener Verbrecher spürt er, daß etwas nicht stimmt. Er zieht seine Pistole aus der Tasche, lädt sie durch (»spannt« sie), de Spannung steigt. Der Mörder geht einen Schritt vorwärts, die Spannung steigt weiter und ist kaum noch zu ertragen. Die Zuschauer winden sich und ringen ihre feuchten Hände. Hackmann vermutet das Unheil in seinem Wohnzimmer und wendet sich dorthin. Das ist Knatterbumms Chance. Lautlos drückt er sich an der Tür hinter Hackmanns Rücken entlang, erreicht unbemerkt den offenen Ausgang, nur ein Schritt fehlt noch und er ist in Sicherheit. Da klingelt sein Handy. Harry, der dusslige Assistent hat nämlich genau in dieser Sekunde ein Netz bekommen. Hackmann fährt herum ... An dieser Stelle pflegte man früher, als es noch die Fortsetzungsromane gab, zu schreiben: »Fortsetzung folgt.«

      Viele Krimiautoren meinen, es sei spannend, dem Leser im geschlossenen Raum eine Gruppe von Verdächtigen vorzuführen und die schon erwähnte »Who-dunit-Veranstaltung« aufzuführen. Da ist Onkel Eduard, der gesetzliche Ersatzerbe dritter Ordnung, der tief in Schulden steckt. Da ist Sofia, die Rachepläne schmiedet, seit der Ermordete sie vor dreißig Jahren verschmäht und statt ihrer die blonde Veronika geheiratet hat, die wiederum eine »Affäre« (ja, das Wort gibt es noch) mit Heinrich hat, der seinerseits, was Veronika nicht weiß, mit Sharon liiert ist, einer Ziehtochter des Mordopfers, die mit Hilfe des hochverdächtigen Agenten Krause bei der Hannoverschen Allgemeinen eine Lebensversicherung

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