Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Christian Morgenstern
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Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte.
Vor einer Menschenmenge: Ich sehe plötzlich die Gedanken dieses Volks wie eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll Tränen und Blitzen.
Über all meinen Werken soll es wie ein großes Verstehen liegen — und davon werden viele glücklich werden.
1895
Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der Hecke des Paradieses vorbei. Dann 15streift mich warmer Hauch, dann mein‘ ich, Rosen zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu Tränen, auf der Stirn liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand — sekundenlang. So streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses …
O tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt.
Möchte gern noch oft erwachen, stets als großer Künstler.
1896
In Arco:
Ich dünkte mich einer jener alten blonden Germanen, die hier einst mit Herrscherschritt durch die Straßen wanderten.
Ich sehe auf mich selbst zurück. Unzählige Gestalten huschen schemenhaft an mir vorüber.
Ausgraben will ich meiner Seele Schacht.
Daß ich nie in meinem Leben eine Schwester gehabt habe! Kein fremdes Weib kann dem Bruder ein solches Verhältnis ersetzen.
Man lasse sich durch meine Ironie nicht irreführen. Meine Ironie ist naiv wie mein Pathos. Ich vermag Unglaubliches ironisch zu sagen, ohne eine Spur von frivoler Empfindung …, ja vielleicht schrieb ich es mit ernsthaftester Miene, ohne ein andres Lachen als das eines in sich heiteren unbewegten Geistes.
16Traum
Ich fange das Raubvogelgesindel meiner häßlichen Gedanken und brate sie am Spieß, der über einem Feuer sich dreht. Ach, vergebens.
Nach einer Zoten-Posse
Je älter ich werde, einen desto tieferen, bittreren, inbrünstigeren Widerwillen empfinde ich gegen die Zote. Weniger gegen die, welche etwa von Mann zu Mann kursiert, obschon ich auch sie vollständig entbehren könnte, als gegen die öffentliche Zote von der Bühne herab. Wenn plötzlich Hunderte versammelter Menschen jede Scham voreinander verlieren und in wiehernder Freude über eine nicht mißzuverstehende Andeutung übereinstimmen, dann sinkt mir der Mensch unter das Tier und ein schmerzlicher Unwille zieht mir das Herz zusammen.
Ich habe doch für vieles Leichtsinn und nicht zum mindesten für die Liebe jeglicher Art, aber vor der berechneten Zote vergeht mir aller Übermut. Da schaue ich nur in einen Abgrund von Gemeinheit und Häßlichkeit. Wir jungen Männer, die wir etwas auf uns halten, sollten jenen Aufführungen beizuwohnen nicht als uns angemessen erachten und am wenigsten Weiber, die wir ehren, mit uns in jene niedrige und widerwärtige Sphäre hinabziehen.
Mein Skeptizismus ist vielleicht gerade das Charakteristische des philosophischen Dilettanten. Der philosophische Dilettant ist immer schnell am Ende aller Dinge, weil er nur die Ergebnisse der bereits gewonnenen Erkenntnis im Auge hat, ohne die Wege 17zu gehen, ja oft auch nur zu kennen, auf denen jene erreicht worden sind.
Jedes Jahr habe ich mindestens Eine Periode fürchterlichsten Zweifels an mir selbst. Dann lebe ich mit beständigen Todesgedanken.
1897
Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Großen. Plastik wäre (und Architektur) mein höchster Fall. Meine höchste Liebe galt immer dem Gegenständlichen, der Linie, der Farbe, dem Ton an sich. Schon er allein vermochte mich zu entzücken, wievielmehr erst seine organischen Verbindungen.
Mein Hang zu philosophischem Nachdenken beruht auf der einfachen Grundlage, daß ich in jedem Augenblick über das kleinste Stück Natur irgendwelcher Art in höchste Verwunderung geraten kann.
Dieser Norden! Da wacht man in der verheißendsten Stimmung auf. Griesgrämig, grau, teilnahmslos ruhen die großen Augen der Fenster auf dir, als wollten sie sagen: wozu regst du dich so auf? was willst du mit deinen törichten Idealen? Alles ist eitel.
Ich verbrenne an meinem eigenen Maßstab.
Träume
Die wilde Jagd.
Der Schächer am Kreuz.
18Mein Herz kommt mir heut vor wie ein Pfefferkuchenherz, das lange im Nassen gelegen hat.
1904
Es ist etwas in mir, das jagt und jagt einem Ziele zu. Das läßt mich in keiner Trägheit ganz ruhn, in keinem Glück ganz vergessen.
1905
Ich möchte am liebsten auf einem Turm wohnen. Täglich im Leben drunten ein Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein Luginsland, sein au dessus de la vie.
So oft ich unter neue Menschen gehe, so oft komme ich mit Wunden bedeckt von ihnen zurück. Es sind freilich nur leichte oberflächliche Schrammen, die bald wieder verheilen, aber sie haben, da sie entstanden, wie zehrendes Feuer gebrannt und besser vielleicht als eine tiefe Verwundung ihr Werk an meiner Seele getan.
Ich kann ungeklärte Verhältnisse einfach nicht ertragen. Warum können die Menschen nicht offen gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!
Ich mag die Verärgerten nicht leiden.
Meine Natur hat sich von früh auf mit Apathie beholfen. Diese Langsamkeit zu reagieren, hat alles, was auf mich einbrach, auf eine breitere Fläche verteilt, und was mir in einer Stunde unzweifelhaft den Atem abgeschnürt hätte, wurde mir so in Tagen 19und Wochen zu einem dumpfen Druck, der mein Leben nicht eben zerstörte, aber langsam und sicher ermattete.
Und das Verhaßteste von allem wird einst geschehen: Man wird mir ‚Milderungsgründe zubilligen‘. (‚Er war ein guter Mensch, er wollte das Beste usw.‘)
Was muß ich auf die Menschen für einen Eindruck machen, daß sie mich so oft wie ein unmündiges Kind behandeln wollen.
Ich trage keine Schätze in mir, ich habe nur die Kraft, vieles, was ich berühre, in etwas von Wert zu verwandeln.