Verarztet! Verpflegt! Verloren?. Veit Beck
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Er ging wieder in die Chirurgie und erläuterte sein Dilemma. Der Chefarzt nahm eine Zange zur Hand, bat ihn um seine Hand, verkündete ihm, dass es etwas weh tun könnte, setzte die Zange an seine Fingerkuppe, positionierte sie kurz und nach einem kurzen Schmerz und Schrei zeigte er ihm stolz den in der Zange steckenden Nagel. Danach verlief die weitere Behandlung problemlos, auch die Physiotherapie.
Das war es dann für lange Zeit mit dem Thema Gesundheitswesen. Unser Protagonist gehörte zu den Glücklichen, die die Frage nach dem Namen des Hausarztes über viele Jahre nicht beantworten konnten. Er hatte einfach keinen. Mangels Bedarf. Leider folgte dann eine Zeit, in der er vielfältige Gelegenheiten hatte, diese Lücke zu schließen.
In den letzten Jahren musste er dann derart intensive Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheits- und Pflegewesen machen, dass er sie einfach aufschreiben musste. Und sei es nur, um sich später zu erinnern, um Ereignisse schriftlich festzuhalten, die er später sonst wohl selbst kaum mehr glauben würde.
Die Schilderungen sind natürlich nur subjektive Beobachtungen, persönliche Erfahrungen und Ansichten. Sie erheben nicht den Anspruch objektiv zu sein. Es handelt sich auch nicht um einen detaillierten Tatsachenbericht, sondern eher um eine durch das reale Leben geprägte Fiktion. Da sich die Ereignisse auch über einen recht langen Zeitraum erstreckten und nur punktuell zeitnahe Aufzeichnungen vorhanden waren, sind auch alle im Folgenden geschilderten Begebenheiten wahrscheinlich exakt so gar nicht passiert. Demzufolge sind benannte Institutionen und Personen Produkte seiner Fantasie und Ähnlichkeiten mit realen Personen, seien sie juristisch oder natürlich, selbstverständlich rein zufällig. Die verwendeten Namen sind definitiv Produkte seiner Fantasie.
Einzelne Akteure zu kritisieren liegt ihm fern. Viele der Beteiligten stehen unter immensem Druck und versuchen gemäß ihren Möglichkeiten unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Menschenmögliche zu erreichen. Trotzdem kommt häufig einfach viel zu wenig bei den betroffenen Menschen an. Und daraus resultiert die Frage, wo denn die vielen Anstrengungen, Illusionen und Mittel, die in das System fließen, verloren gehen. Denn verloren geht einiges in diesem System. Verloren gehen insbesondere die Betroffenen. Kranke, Alte, Angehörige und viele der in dem System Beschäftigten.
Und verloren kam auch unser Protagonist sich recht häufig vor, auf seiner mehrjährigen Irrfahrt durch das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem.
Und hier ist seine Geschichte.
2 Parkinson
Wie das denn funktionieren soll, können Sie mir sicher auch nicht erklären. Ruhig zu bleiben, wenn um 5:30 Uhr in der Früh das Telefon klingelt, sie schlaftrunken abheben, sich melden und die Stimme der Nachbarin ihrer kränkelnden Mutter hören.
Auch wenn der erste Satz lautet: „Sie müssen sich keine Sorgen machen.“ Das klappt nicht, Sie erschrecken und machen sich Sorgen.
Meine Mutter Marianne war, so der Bericht der Nachbarin, im oder auf dem Weg in das Krankenhaus. Offenbar war sie in der Nacht gestürzt, konnte aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen, hatte sich aber irgendwie bemerkbar machen können, ob durch Betätigung ihres Hausnotrufes, durch Klopfen oder Rufen habe ich bis heute nicht in Erfahrung bringen können. Jedenfalls war die Nachbarin, die auch sonst häufiger nach meiner Mutter sieht, durch Lärm im Treppenhaus geweckt worden, hatte sich zur Wohnung meiner Mutter, gleiche Etage, nur rechts begeben und dort Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, zwei Angestellte des Pflegedienstes und den Nachbarn, der unter der Wohnung meiner Mutter wohnt, vorgefunden. Meine Mutter lag schon auf der Trage der Sanitäter, war aber ansprechbar und klagte über Schmerzen am rechten Arm. Das waren die Informationen, derentwegen ich mir keine Sorgen machen sollte.
„Ich bin so gut wie unterwegs und vielen Dank für die Benachrichtigung“, entgegnete ich und beendete das Telefonat.
Wenig später befand ich mich im Auto, unterwegs zur Wohnung meiner Mutter. Ca. 30 km hatte ich zu fahren. So früh morgens, es war kurz nach 6:00 Uhr, dauerte das nur eine knappe halbe Stunde. Schon auf der Fahrt grübelte ich, wie das hatte passieren können.
Meine Mutter war an Parkinson erkrankt. Vor ungefähr zwei Monaten war es gelungen, für sie eine kontinuierliche neurologische Behandlung zu beginnen. In den sechs Monaten vorher, seit wir von der Diagnose Parkinson wussten, mussten wir improvisieren. Mangels notwendiger Kenntnisse und verfügbarer medizinischer Ressourcen.
Diagnostiziert wurde Parkinson während eines früheren Krankenhausaufenthaltes von Marianne. Dort wurde auch die Medikation bestimmt, die nach der Entlassung durch den Hausarzt verordnet werden sollte. Das lief nicht ganz so unproblematisch, doch dazu später mehr. Nur durch den Tipp eines Praxiskollegen ihres Hausarztes, der einen Neurologen kannte und einem unerwartet engagiertem Einsatz meinerseits, bekam meine Mutter überhaupt einen kurzfristigen Vorstellungstermin in der neurologischen Ambulanz des Krankenhauses an ihrem Wohnort. Und das auch noch beim Chefarzt Dr. Kloos, einem anerkannten Neurologen. Eigentlich war das unmöglich. Denn der Chefarzt nahm nahezu keine neuen Patienten an. Neue Patienten wurden auf die anderen Ärzte der neurologischen Ambulanz verteilt. Und schon bei denen war eine Wartezeit von mehreren Monaten die Regel. Und wir hatten wirklich einen kurzfristigen Termin bekommen. Mit nur einer guten Woche Wartezeit.
Das Ergebnis des Vorstellungstermins war neben einer Bestätigung der Parkinson-Diagnose die Aussicht auf eine trotzdem mögliche Erhöhung der Mobilität meiner Mutter. Laut Aussage des Arztes läge ihre aktuelle Medikation bei ca. 30% der maximal möglichen Medikation, sodass er versuchen würde, über eine langsame Steigerung der Medikation das für meine Mutter sinnvolle Optimum zu finden. Er machte keinen Hehl daraus, dass wir ein Stück weit experimentell vorgehen müssten, da die Einstellung von Parkinson-Patienten ein langwieriger, jeweils individuell zu gestaltender Prozess wäre. Try and error also, nicht schön, aber offenbar alternativlos. Er erhöhte folglich die Levodopa-Dosis und reduzierte im Gegenzug ein anderes neurologisches Medikament namens Amatadin, sowie ein weiteres Medikament. Wie später noch zu berichten sein wird, musste meine Mutter wegen anderer Beschwerden noch viele weitere Medikamente dauerhaft einnehmen. Aber auch dazu später mehr, derzeit ist das nur insofern von Relevanz, als die umfangreiche existierende Medikation die Einstellung der Medikation zur Minimierung der Parkinson-Symptome noch zusätzlich erschwerte. Neben den Rezepten für die Anpassung der Medikation meiner Mutter erhielten wir einen Folgetermin in gut vier Wochen.
Erste Effekte der veränderten Medikation zeigten sich bereits nach drei bis vier Tagen, leider jedoch in die falsche Richtung. Meine Mutter wurde zunehmend immobil. Konnte sie anfangs noch selbstständig aus dem Sessel aufstehen, sie hatte dazu eine interessante Technik entwickelt, indem sie sich an dem schweren, mit einer Glas- und einer Marmorplatte versehenen Couchtisch festhielt und hochzog, war ihr das schon wenige Tage später nicht mehr möglich. Zusammen mit den schon in den Tagen vorher zu beobachtenden Problemen beim Laufen, und hier insbesondere beim Losgehen und bei Richtungswechseln, war sie ungefähr zehn Tage nach