Umbruch. Paul U. Unschuld
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Dieses Buch spricht einige Aspekte der komplexen Natur des Übergangs Deutschlands in eine neue politische Realität an, für die es kein Vorbild gibt – weder die großen USA noch die kleine Schweiz taugen als solches. Das zukünftige Deutschland wird nur noch wenig gemein haben mit dem Deutschland, das sich zwei Jahrhunderte lang bemüht hat, eine deutsche Nation zu sein. Das ist nicht zuletzt an dem zunehmenden Einfluss der englischen Sprache auf die deutsche Sprache abzulesen. Eine «reine» deutsche Sprache wird es in Zukunft noch weniger geben als bisher. Deutschland öffnet sich der globalen Kommunikation; die deutsche Sprache kann sich genauso wenig abgrenzen wie die deutsche Nation. Doch nicht nur der Nationalismus ist unwiderruflich überholt, auch die demokratische Verfassung erscheint aufgrund wachsender internationaler Vernetzung zunehmend unrealistisch.
Den Übergang in die ethnisch und kulturell noch sehr viel stärker als bisher vielfältige Gesellschaft in geordnete Bahnen zu lenken, das ist Aufgabe der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortungsträger. Sie sind imstande, durch öffentliche Aussagen die Meinungen und Empfindungen der Menschen zu beeinflussen. Wenn man ein Defizit in der gegenwärtigen Situation benennen möchte, dann wäre das der Mangel an Aufklärung über die Unvermeidlichkeit der zunehmenden Einbindung eines jeden Landes, nicht nur Deutschlands, in die internationalen Netzwerke des Handels. Deutschlands Wohlergehen hängt in erster Linie von seinen wirtschaftlichen Erfolgen im internationalen Handel ab. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass die Grenzen für Menschen fremder Ethnien und Kulturen geschlossen bleiben können, während wir gleichzeitig unsere Produkte der gesamten Welt anbieten. Gelegentlich wird die Unvermeidlichkeit der wachsenden gegenseitigen ethnischen und kulturellen Durchdringung aller Länder in Worte gefasst, etwa, wenn die Bundeskanzlerin von einer Politik spricht, die «alternativlos» ist. Das ist sie in der Tat. Aber die Beweisführung, die solche Aussagen unterstützt, ist auf breiter Ebene erforderlich – und hieran fehlt es.
Es sind zahlreiche Bücher und Medienereignisse, von den Talkshows im Fernsehen bis hin zu öffentlichen Reden verantwortlicher Politiker, im Umlauf, die darauf angelegt sind, die Sorgen eines Teils der Bevölkerung mit Blick auf den Übergang Deutschlands in eine ungewisse Zukunft zu beschwichtigen. Aber es sind kaum seriöse Analysen vorhanden, die sich den Begleiterscheinungen und Reizen widmen, die diese Gefühle hervorrufen. Nur wenn man sich dieser Begleiterscheinungen und Reize bewusst ist, kann eine Debatte entstehen, ob sie beachtet werden müssen, ob sie abzumildern sind, ob sie erklärt werden müssen oder ob sie ganz abgestellt werden können. Erst auf dieser Grundlage kann man möglicherweise auch die negativen Emotionen kontrollieren, die öffentlich zum Ausdruck kommen.
Die mit der Flüchtlings- und Migrantenproblematik befasste öffentliche Debatte kennt kaum Zwischentöne. Jeder scheint gefordert, sich für eine Seite deutlich zu entscheiden: für diejenigen, die im akademischen und politisch korrekten Rampenlicht stehen und jeden an der offenen Grenzpolitik und der Integrierfähigkeit hunderttausender fremdkultureller Zuwanderer Zweifelnden als Ausländerfeind und Rassisten kennzeichnen, oder für diejenigen, die sich stetig radikalisierend einem veralteten Nationalismus verpflichtet fühlen. Dass unter den Zweiflern viele, vielleicht sogar in der Mehrheit, sind, die den verständlichen Wunsch hegen, auch weiterhin ein Leben führen zu können, das ihren wohlbegründeten Wertvorstellungen entspricht, findet in der medienwirksamen Auseinandersetzung nur selten Ausdruck, so etwa in einem Leserbrief in einer Berliner Tageszeitung vom 21./22. Mai 2016 als Reaktion auf einen der üblichen pauschalisierenden Berichte über die angeblich aus bestimmten Lebensläufen resultierende fremdenfeindliche Einstellung ganzer Bevölkerungsgruppen:
«Ja, ich gehöre zu den Rentnern mit dem angeblichen ‹extremen Schwarz-Weiß-Denken› und dem ‹stark materiellen Sicherheitsbedürfnis›, die als Kriegskinder Schlimmes erlebt haben. Und nein, wir waren keine Nazi-Familie, unser Opa hat keine Kriegsverbrechen in Russland begangen, er verstarb sehr früh. Ich habe keinen Hass gegenüber Flüchtlingen, die aus Kriegsgebieten unter unsäglichen Strapazen flüchten mussten. Soweit es mein Geldbeutel erlaubt, beteilige ich mich an vielen Spendenaktionen. Ich habe aber etwas gegen Zugewanderte, die ständig herummotzen, die mit ihren kriminellen Familien ganze Stadtviertel beherrschen, die nur fordern, sich ständig als Opfer fühlen und die uns ihre Religion überstülpen wollen. Ich mag keine Einwanderer, die es nur auf unsere Sozialleistungen abgesehen haben, die unsere Kultur, unsere Werte verachten, die junge Frauen begrapschen und unsere Polizisten verprügeln. Und ich mag keine Experten, die nicht den Mut haben, die wirklichen Ursachen für die Erfolge der AfD zu benennen, die gegen Ostdeutsche und ehemalige deutsche Heimatvertriebene hetzen und kritische Bürger als Flüchtlingshasser verunglimpfen.» 4
In der hier vorgelegten Betrachtung stehen daher nicht die intellektuellen Analysen im Vordergrund, die in kleinen akademischen Zirkeln die Problematik von Migration und gesellschaftlichem Wandel erläutern. Vielmehr sollen die Emotionen gegenüber diesem gesellschaftlichen Wandel deutlich werden, die aus historischen Gegebenheiten, dem Festhaltenwollen an langfristigen Gewohnheiten und nicht zuletzt aus den Informationen entstehen können, die täglich in den Medien der Bevölkerung dargeboten werden.
Deutschland steht vor drei gewaltigen Herausforderungen: Das ist die zunehmende innere ethnische und kulturelle Vielfalt. Das ist die Integration Europas, in dem nun Länder unterschiedlicher, historisch bedingter innerer Verfassung eine Einheit, ja sogar eine «Gemeinschaft» bilden sollen. Das ist schließlich die Einbindung Deutschlands über Europa hinaus in ökonomische, militärische und somit politische Netzwerke, die unvermeidlich einen Souveränitätsverlust mit sich bringen. Das ist nicht etwa ein abstrakter Verlust, den man im Alltag nicht bemerkt. Im Gegenteil, der Souveränitätsverlust geht für jeden Einzelnen damit einher, immer weniger über die herkömmlichen demokratischen Regulierungsmöglichkeiten auf die Gestaltung des Alltags Einfluss nehmen zu können. Diese drei Herausforderungen sind eng miteinander verknüpft. Viele nachdenkliche Menschen sind bemüht, ihren Beitrag als Reaktion auf diese Herausforderungen zu leisten. Es fehlt allerdings eine politische Vision, die alle drei Herausforderungen gemeinsam benennt und zu meistern verspricht.
Die zentrale Frage, jetzt und für geraume Zeit lautet: Welche Zukunft soll Deutschland haben?
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2015 verkündet: «Wir schaffen das!» Das mag so sein. Eine Bedingung dafür lautet, dass nicht nur die «zu kurz Gekommenen» ihren Unmut bis hin zur Wut angesichts einiger Formen äußern, die der Wandel annimmt. Tatsächlich ist Unmut in offenbar allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen; es gehen nur nicht alle Schichten der Bevölkerung auf die Straße, um ihren negativen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Die Beschwichtiger übersehen auf diese Weise, dass sich ein Nährboden aufbaut, der für den Missbrauch fruchtbar ist. Das hat es schon einmal gegeben; es darf nicht wieder vorkommen.
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2016 verkündet: «Deutschland bleibt Deutschland.» Das ist mit Sicherheit nicht so.
Welches Deutschland soll denn Deutschland bleiben? Das Deutschland von 2016 ist nicht das von 1968 und auch nicht das von 1950 oder 1933 oder gar 1870/71. Deutschland hat sich stets verändert. Es hat nicht zuletzt in den vergangenen Jahren Ballast der Vergangenheit abgeworfen, die Paragrafen 175 und 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein gutes Stück vorangebracht und vieles andere mehr. Vor allem, und dieser Tatsache gilt dieses Essay, hat sich die Bevölkerungsstruktur so sehr geändert, dass vielleicht nicht in jedem Dorf in Niederbayern, im Steigerwald oder in der Uckermark, aber doch in jeder größeren Ortschaft und in allen Städten eine Vielfalt der Menschen, ihrer Denkweisen, politischen Anschauungen und vor allem kulturellen Orientierungen eine Wirklichkeit angenommen hat, die das Wort «Deutschland bleibt Deutschland» als das offenlegt, was es tatsächlich ist: eine Beschwörung, die Beunruhigung dämpfen soll – aber genau dazu nicht geeignet ist, weil die Menschen die tiefgreifenden Veränderungen Deutschlands, wenn nicht aus eigenem Erleben, dann aus den Medien, tagtäglich wahrnehmen. Es geht nicht darum,