Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen
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»Henri, jetzt geht das wieder los!« Sie verdrehte die Augen. »Herr Smith, sind Sie auch so streng mit Ihrer Gattin? Mein Henri lässt mir aber auch gar keine Freude. Dabei raucht er selbst Zigarren.«
»Ach, wissen Sie, Frau de Meli, rauchende Damen sind für mich eine Modeerscheinung. Wenn es Ihnen gefällt! So ist das mit den jungen Frauen, sie tanzen uns auf der Nase herum, nicht wahr?« Er nickte Henri verständnisvoll zu.
Henri spürte, wie sein Hemdkragen feucht wurde. Er schwitzte. Wie konnte dieser alte Smith so leutselig sein und sich auf die Seite von Florence schlagen? Er lächelte gequält.
»Da hast du’s! Gaunerchen!« Triumphierend strich Florence ihm über seinen Bart.
Henri musste sich beherrschen. Jetzt wollte sie ihn wohl gänzlich zum Narren machen – hier in der Gesellschaft des Amerikanischen Clubs. Zwischen all den honorigen Exil-Amerikanern, zu denen er selbst nun auch schon etliche Jahre gehörte. Manche taten furchtbar vornehm, so wie Theodore Smith und seine blasse Ehefrau, andere waren kaum zu ertragen in ihrer Kulturbeflissenheit in Dresden. Immer unterwegs zwischen Gemäldegalerie, Semperoper, Klavierabend oder Lesung. Versuchten sogar, sich auf Deutsch zu unterhalten. Lachhaft.
Henri bestellte ein weiteres Bier und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Gleich war es halb elf. Vielleicht sollten sie heute einmal früher aufbrechen, überlegte er, doch im nächsten Moment, als der Kellner ein frisch gezapftes Bier vor ihm abstellte, verwarf er den Gedanken.
»Wunderbar. Dann machen Sie mir doch bitte noch einen Absinth!«
Der Kellner eilte mit der neuen Bestellung davon.
»Aber, Gaunerchen, du wolltest doch keinen Absinth trinken! Das hattest du mir versprochen. Ein paar Tage einmal ohne dein grünes Gift«, sagte Florence und stupste ihn am Arm.
Diesmal hörten es nicht nur die Smith’, auch Witwe Clarkson und ihr redseliger Begleiter, Jonathan Baker sahen plötzlich in seine Richtung. Henri spürte die Hitze. Und die Wut. Seine Frau machte ihn lächerlich. Vor allen Leuten. Sein Atem ging schwer. Er stürzte sein Bier hinunter und zischte: »Florence, bitte! Benimm dich! Vergiss nicht, dass ich dein Ehemann bin. Und als solcher muss ich dir gegenüber überhaupt keine Rechenschaft ablegen.«
Florence legte ihren Kopf zur Seite und pustete ihm noch einen Rauchkringel ins Gesicht. »War doch gar nicht ernst gemeint. Natürlich kannst du machen, was du willst!« Sie küsste ihn auf die Wange. »Lass uns den schönen Abend genießen! Prost, Darling!«
Henri reagierte nicht, sondern konzentrierte sich darauf, kaltes Wasser in das Glas mit dem Absinth vor ihm zu gießen. Das leuchtende Grün wurde milchig. Er probierte die Mischung. Dann trank er das Glas zügig leer. Auf sein Handzeichen hin brachte der Kellner noch mehr von dem giftgrünen Alkohol. Henri atmete aus. Das Schwitzen ließ nach.
Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Er war wahrscheinlich der reichste Mann hier im Saal. Man wusste es nicht genau. Mit irgendetwas hatten sie alle ihr Geld gemacht. Ihr Dollarvermögen. Und das war hier, in der deutschen Provinz, gleich doppelt so viel wert. Ob es immer mit rechten Dingen zugegangen war beim Vermögensaufbau oder ob die Vorfahren tatsächlich schon mit der »Mayflower« nach Amerika gekommen waren, wer wollte das überprüfen? Ihm fiel William King Thomas ein. Vor ein paar Jahren war er der Vize-Präsident im Anglo-Amerikanischen Club gewesen. Ein großzügiger Gastgeber mit einer eleganten Ehefrau. Die Thomas’ waren unermesslich reich, hieß es immer. Henri hatte gleich seine Zweifel gehabt. Dann platzte die Bombe! Wortwörtlich. Der feine Mr. King Thomas war ein gedungener Massenmörder. Hatte ein Schiff versenken wollen mit einem Fass Sprengstoff. Nur um die Versicherungsprämie zu kassieren, für seine Ladung, die in Wirklichkeit wertlos war. Das Fass explodierte schon im Hafen und brachte Dutzenden Menschen den Tod. Unzählige andere wurden verletzt. Der Gipfel war, dass sich der Mann anschließend das Leben nahm. So ein feiger Hund! Und Florry, dieses unbedarfte Ding, war gut befreundet mit der Ehefrau dieses Massenmörders! Wie lange war das jetzt her? Fünf Jahre? Oder sechs?
Henri starrte auf die hellgrüne Flüssigkeit in seinem Glas. Angeblich hatte die Ehefrau – wie hieß sie doch gleich? Cäcilie? Celia? Nein, Cecelia – nichts geahnt von den üblen Machenschaften ihres Mannes. Und trotzdem war sie nur wenige Wochen nach der abscheulichen Tat aus Dresden geflohen. Alle hatten den Kontakt zu ihr abgebrochen. Nur Florry nicht. Henri wusste, dass sie heimlich Briefe nach New York schickte. Angeblich an ihre Brüder. Aber eines der Dienstmädchen hatte ihm die Wahrheit erzählt. Henri stöhnte auf. Würde Florence denn nie erwachsen werden? Gut, sie war erst 15 Jahre alt gewesen, als sie sich vor zwölf Jahren kennengelernt hatten. Aber mittlerweile war sie Mutter zweier Kinder, die Ehefrau eines der reichsten Männer in der Stadt und eine »de Meli«. Hätte er doch nur auf seine Mutter gehört. Sie war gleich gegen diese Verbindung gewesen.
»Henri! Henri!« Atemlos plumpste Florence auf ihren Stuhl. »Der Kapellmeister hat mir versprochen, das Lied ›Oh, Dem Golden Slippers‹ zu spielen. Wir wollen singen!«
Henri seufzte. Sie war so hübsch! Diese Mischung aus Anmut, Fröhlichkeit und Schönheit. Florence redete weiter. Er sah, wie sich ihr Mund bewegte. Dieser Kirschenmund. Aber er hörte nicht, was sie sagte. Sah die flinken braunen Augen, das feine Gesicht. Immer in Bewegung. Sie lachte und warf den Kopf zurück. Ein grüner Schleier hatte sich über seinen Blick gelegt. Der Absinth machte ihn wehrlos. Aber er legte auch die Wahrheit offen. Ja, seine Flossie war von Anfang an die Schönste gewesen. Und unbekümmert wie ein Kind. So wie er nie war. Wie niemand war bei den de Melis. Erst recht, nachdem sein Vater aus dem schlichten »Melly« ein »de Meli« gemacht hatte – angeblich stammte die Familie von italienischen Adeligen ab. In Wirklichkeit kamen ihre Vorfahren aus der Schweiz. Tüchtige Uhrmacher. Doch das sollte niemand wissen. Offiziell waren sie seit ein paar Jahren Familie de Meli. Von denen lachte niemand mit entblößten Zähnen und sang hemmungslos mit, wenn die Kapelle das Lieblingslied anstimmte.
Henri nippte an seinem Glas. Der Keller war zuverlässig und diskret. Henri zahlte ein großzügiges Trinkgeld. Langsam verlor er den Überblick über die Menge des grünen Wundermittels, die er schon getrunken hatte. Angeblich wurde es als Medizin benutzt. Henri hatte vergessen, wogegen es half. Ihm half der Absinth ebenfalls. Er brachte ihm Ruhe. Und machte ihn gelassen. Und manchmal zeigte ihm der Alkohol auch, was er liebte. Diese Frau dort, in ihrem sahnegelben Kleid und den schimmernden Perlenohrringen. Wie sie dort stand – umringt von einem kleinen Pulk anderer Gäste, wie sie lachte und lauthals sang. Was für eine Frau! Seine Frau. Henri schluckte. Er strich sich durch den Bart und zündete sich eine Zigarre an. Seine Augen begannen zu tränen. Es war der Rauch. Es war der Rauch. Es war … der Anblick seiner Frau.
Florence war vergnügt. Endlich wieder unter Menschen! Und sie sang so gern. Im Chor der All-Saints-Kirche – das war das eine. Aber hier im Ballsaal von Webers Hotel zwischen all den eleganten Frauen, den charmanten Männern, der Musik. Sie fühlte sich großartig. Der Kapellmeister erwiderte ihren Blick mit einem Schmunzeln und wies seine Musiker an, ein weiteres »da capo!« zu spielen. Als sie die ersten Takte noch einmal hörte, warf sie Henri eine Kusshand zu. Er lächelte. Gott sei Dank, er war nicht mehr böse auf sie.
»Mein Darling, die Musik ist wundervoll. Ich muss singen!«
Henri nickte. Seine Augen waren rot. Er lächelte und tätschelte ihren Arm, als sie nach ihrer Zigarettenspitze griff. Florence küsste ihn auf seinen kahlen Kopf und eilte zurück zu den anderen, die immer noch vor dem Podest mit der Kapelle standen und zu den Takten der Musik schunkelten. Baron von Geyso hielt ihr galant eine Hand entgegen. Er zwinkerte ihr zu. Der Baron mochte sie. Manchmal konnte man denken, er mochte alle Frauen. Florence warf ihm einen tiefen Blick zu, dann sprang sie behände auf die Bühne neben den Kapellmeister und erhob ihre Zigarettenspitze.
»Jetzt