Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen
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Antoinette de Meli schloss die Augen und genoss die Zuwendung. Diese Momente waren die einzigen körperlichen Berührungen, die sie noch bekam. Ja, wenn die Enkelkinder zu Besuch waren, dann küssten sie sie auf die eingefallenen Wangen. Aber besonders innig waren diese Begegnungen nicht. Das lag an der Mutter. Florence war schuld. Sie trieb einen Keil zwischen die Großmutter und die Enkelkinder. Antoinette öffnete die Augen. Schon der Gedanke an die Schwiegertochter machte sie bitter. Schnell schloss sie die Augen wieder und überließ sich der französischen Bürste mit den Wildschweinborsten, die unermüdlich durch ihr Haar glitt.
Eine knappe Stunde später saß die Hochsteckfrisur von Antoinette de Meli perfekt. Mit etwas Talcumpuder hatte Elsbeth die schweren Haare griffig gemacht und zu angedeuteten Kränzen auftoupiert und festgesteckt. Nur die Brennschere durfte sie nicht mehr benutzen, nachdem sie ihrer Herrschaft mit dem glühend heißen Gerät einmal ein Brandmal hinter dem Ohr zugefügt hatte. Aber Antoinette de Meli hatte sich bald beruhigt und dies als Zeichen gesehen, von nun an auf kokette Löckchen an der Schläfe zu verzichten. Mit 64 Jahren brauchte sie diese eitle Spielerei nicht mehr. Außerdem verdeckten die Locken ihren Ohrschmuck. Heute hatte sie sich für hellblauen Aquamarine entschieden.
Gleich würde sie ihre Schwiegertochter in der Kirche sehen. Zusammen mit den Enkelchen. Und Henri natürlich. Ihrem Sohn. Ihrem Augenstern. Doch diese Frau trieb ihn in den Abgrund. Der viele Alkohol, die düsteren Momente, sein Jähzorn. Was machte Florence aus ihm? Die Leute tuschelten schon. Nur Florence war überall gern gesehen. Die fröhliche, junge Frau de Meli – immer für einen Spaß zu haben. Dabei benimmt sie sich wie ein Kind, dachte Antoinette grimmig. Oh, hätte Henri diese Frau doch niemals kennengelernt! Hätte sie selbst doch nicht auf die Drapers gehört, die zu einer Vermählung drängten. Schließlich konnte doch Henri nichts dafür, dass Florence ein solches Flittchen war und sich ihm an den Hals geworfen hatte. Es war natürlich das Beste, was dieser Familie passieren konnte. Hatten zwar ihren Namen, ja, »Draper«, an sich keine schlechte Familie. Aber von denen gab es unzählige in den USA. Ausgerechnet die Drapers hier in Dresden gehörten zu der ärmlichen Verwandtschaft. Jetzt hatten sie ihre Tochter gut verheiratet. Das frühreife Ding – Millionärsgattin. Antoinette merkte gar nicht mehr, wie sich ihre Mundwinkel immer weiter nach unten zogen. Wie ihr ganzer Ausdruck verkniffen wurde, wenn sie nur an Florence dachte.
Die Wintersonne schien. Der Platz vor der Kirche füllte sich. Die Glocken läuteten noch nicht, noch war ein wenig Zeit zum Plaudern. Über den gestrigen Abend zum Beispiel. Was für ein gelungenes Fest, lautete die einhellige Meinung. Einige Männer lachten verlegen bei dem Gedanken an die ausgelassenen Stunden. Die Abende im Anglo-Amerikanischen Club gehörten normalerweise nur ihnen. Ehefrauen und Töchter waren einzig zu besonderen Anlässen zugelassen. Gestern war so ein Anlass gewesen. Ein Ball! Sogar gesungen wurde, und ach, ein Zwinkern, ein Räuspern, die Polonaise erst! Ein Heidenspaß! Wo steckte sie denn, die kleine Anführerin des lustigen Tanzvergnügens? Wo war denn die junge Frau de Meli?
Florence stand etwas abseits von der immer größer werdenden Menschenmenge. Trotz der Kopfschmerzen, trotz der zu kurzen Nacht sah sie fabelhaft aus in ihrem grünen Samtkleid, das so gut zu ihren braunen Augen und den brünetten Haaren passte. Witwe Clarkson musterte die junge Frau aus sicherer Entfernung. Donnerwetter, eines musste man ihr lassen, sie sah gut aus. Die Jugend, die Jugend, dachte Witwe Clarkson und seufzte. Die Jugend verzeiht champagnerselige Nächte. Na, das wird sich schon noch ändern. Man brauchte ja nur einen Blick auf ihren Gatten zu werfen. Und tatsächlich, Henri de Meli sah mitgenommen aus. Die Krempe seines Zylinders war viel zu schmal, um das fahle Gesicht mit den Augenrändern zu verdecken. Immerhin war sein gewaltiger schwarzer Bart gewachst und ordentlich gestutzt.
Witwe Clarkson hielt sich das Lorgnon unauffällig vor die Augen und tat so, als suche sie die Gegend nach jemandem ab. In Wirklichkeit starrte sie immer wieder zu den de Melis. So ein hoffnungsvoller junger Mann war er gewesen, die Witwe schüttelte missbilligend den Kopf. Und jetzt? Sein Gesicht sah aufgedunsen aus, überhaupt war er in letzter Zeit sehr rund geworden. Hatte gar nichts Vitales, nichts Zupackendes mehr. Und die Schulterpartie erst! Es war kein Schwung in dem Mann, das konnte jeder sehen. Es war, als würde seine Frau alle Kraft aus ihm herausziehen. Die Witwe grübelte über den Verfall und kam zu dem Schluss, dass jeder Mann eine Aufgabe benötigte. Henri de Meli hatte keine Aufgabe. Er musste nicht arbeiten. Selbst um das gewaltige Vermögen musste er sich nicht selbst kümmern. Kein Wunder, dass man da zum Alkohol greift, setzte die Witwe ihren inneren Monolog fort.
Die Glocken begannen zu läuten. Langsam setzten sich die Menschen in Bewegung und suchten ihre Plätze in der Kirche. Florence hielt ihren Sohn Henry und die kleine Minnie an der Hand. Ihr Mann ging zwei Schritte vor ihnen gemeinsam mit seiner Mutter. Florence setzte sich zusammen mit den Kindern auf die Bank, auf der schon ihre Schwiegermutter und Henri Platz genommen hatten. Sie bekreuzigte sich.
»Minnie, zappele bitte nicht so mit den Beinen. Wir sind hier in der Kirche«, ermahnte sie ihre kleine Tochter.
Minnie stoppte das Schaukeln. »Dann setz ich mich zu Granny. Da darf ich schaukeln«, gab die Kleine zurück.
»Nein, du bleibst, wo du bist«, zischte Florence.
Und Minnie gehorchte beleidigt, bis sich die alte Frau de Meli einmischte: »Mein Schätzchen, nach der Kirche kommst du mit zu Granny. Da habe ich eine schöne Überraschung für mein kleines Mädchen!«
Minnie strahlte.
Florence zwang sich, ihre Schwiegermutter anzulächeln. Doch Antoinette de Meli würdigte Florence keines Blickes. Nervös suchte Florence die Hand ihres Sohnes. Ein zarter Druck, eine Vergewisserung. Der Junge lehnte sich noch enger an sie.
Die ersten Töne der Orgel erklangen. Henri de Meli richtete sich auf und faltete die Hände über seinem Bauch. Er fühlte sich elend. Der viele Absinth gestern. Doch die Abläufe an einem Sonntag waren unumstößlich. Gottesdienst, danach gemeinsames Mittagessen mit der ganzen Familie bei seiner Mutter und anschließend ein Spaziergang entweder an der Elbe entlang oder durch den Großen Garten. Nur bei schlechtem Wetter blieben sie in der Wohnung von Antoinette in der Lüttichaustraße 16 und legten Patiencen oder spielten eine Runde Bridge. Dann wurde Kuchen serviert, und zum Abschluss musste Henry junior am Hammerklavier zeigen, was er in der vorangegangenen Klavierstunde gelernt hatte. Henri stöhnte leise. Wahrscheinlich würde der Junge sich wieder verspielen oder vor lauter Aufregung gleich zu weinen anfangen. Es war ein Kreuz mit diesem Kind. Er lugte zur Seite und betrachtete seinen Sohn, der sich an seine Mutter schmiegte. Von Anfang an hatte ihm dieser Junge den Platz an der Seite von Florence streitig gemacht und ihn fortgedrängt. Henri dachte an das zersprungene Lineal. Er spürte, wie der Zorn zurückkehrte.
Florence’ Gedanken schweiften ab. Sie dachte an den Abend. Warum konnte nicht jeder Tag so wunderbar enden wie der gestrige? Mit Tanz, mit Musik, mit Lachen? Ach, um wie vieles leichter wäre doch das Dasein! Sie seufzte. Über ihren Sohn hinweg hörte sie ein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Unauffällig blickte sie zur Seite. Henri war eingeschlafen. Sein Mund war halb geöffnet, der Kopf leicht zur Seite gefallen. Seine Mutter schien nichts zu bemerken. Florence griff über ihren Sohn hinweg an die Hüfte ihres Ehemannes und versetzte ihm einen kleinen Stoß. Henri schlug die Augen auf. Er lächelte ihr zu. Verschwörerisch. Sie zwinkerte zurück. Manchmal war das Gefühl wieder da, das Gefühl vom Anfang. Dann sah sie Henri an und war froh, dass er ihr Ehemann war. Er hatte seine guten Seiten. Henri streckte vorsichtig seine Hand nach ihr aus. Ihr Sohn saß zwischen ihnen. Sie drückte seine Hand und nahm den schwachen Alkoholgeruch wahr, den er noch immer ausströmte. Dann versuchte sie sich auf die Predigt zu konzentrieren, doch sie hatte längst den Faden verloren.
Antoinette de Meli überlegte kurz, ob sie den Wein beim Essen heute einmal weglassen sollte. Henri zuliebe. Damit er gar nicht erst damit anfing, doch dann kam es ihr seltsam vor. Ein Mittagessen – zumal an einem Sonntag – und keinen guten Tropfen Riesling?