Essays. Francis Bacon
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FÜNFTE ABHANDLUNG:
ÜBER DAS UNGLÜCK
Seneca sprach große Worte, als er (in der Art der Stoiker) sagte, „dass die guten Dinge, die sich aus Reichtum und Erfolg ergeben, erstrebenswert sind, aber die guten Dinge, die aus dem Unglück folgen, bewundernswert sind“, „bona rerum secundarum optabilia, adversarum mirabilia.“ Gewiss, wenn Wunder der Natur zu gebieten vermögen, dann ereignen sie sich zumeist im Unglück. Noch größere Worte als die vorangegangenen sprach er aus (zu groß waren sie eigentlich für einen Heiden): „Es ist wahre Größe, die Gebrechlichkeit eines Menschen und die Sicherheit eines Gottes in sich zu vereinen.“ „Vere magnum, habere fragilitatem hominis, securitatem dei.“ Dies hätte er besser in einem Dichtwerk gesagt, wo solche Erhabenheit eher am Platze ist. Die Dichter haben sich in der Tat damit beschäftigt, denn dies ist es im Grunde, was in jener seltsamen Dichtung der alten Poeten dargestellt wird, die nicht ohne Geheimnis und sogar der Geisteshaltung eines Christen angenähert zu sein scheint. Als Herkules sich daran machte, den Prometheus zu entfesseln (durch den die menschliche Natur dargestellt wird), segelte er über den weiten Ozean in einem irdenen Topf oder Krug, wodurch auf lebendige Weise die christliche Entschlossenheit beschrieben wird, in der zerbrechlichen Barke des Fleisches durch die Wellen der Welt zu segeln. Doch drücken wir es auf schlichtere Weise aus: Die Tugend des Wohlstandes ist die Mäßigung; die Tugend des Unglücks ist die Tapferkeit, welche in der Sittenlehre als die heroischere Tugend gilt. Wohlstand und Erfolg sind der Segen des Alten Testaments; Unglück ist der des Neuen Testaments, welches die höhere Weihe und die deutlichere Offenbarung der göttlichen Gnade in sich trägt. Doch auch wenn man Davids Harfe im Alten Testament lauscht, wird man genauso viele Trauerklagen wie Jubellieder hören, und der vom Heiligen Geist geführte Griffel hat sich mehr in den Beschreibungen der Heimsuchungen Hiobs als in den Glückseligkeiten Salomos abgemüht. Wohlstand ist nie frei von Ängsten und Abneigungen, und Unglück ist nie ohne Trost und Hoffnung. Bei Nadelarbeiten und Stickereien ist es angenehmer, ein lebendiges Bild auf einem tristen und feierlichen Untergrund zu haben anstatt eines dunklen und melancholischen Werkes auf einem hellen Grund. Daher lässt sich aus dem Vergnügen des Auges auf das Vergnügen des Herzens schließen. Gewiss ist die Tugend wie köstliche Düfte, die am besten riechen, wenn sie verbrannt oder gepresst werden, denn im Wohlstand und Glück offenbart sich das Laster am besten, während sich im Unglück am besten die Tugend zeigt.
SECHSTE ABHANDLUNG:
ÜBER VERSTELLUNG UND HEUCHELEI
Die Heuchelei ist bloß eine schwache Abart von Klugheit und Weisheit, denn es erfordert einen scharfen Verstand und großen Mut zu wissen, wann die Wahrheit ausgesprochen werden muss, und sie dann auch tatsächlich auszusprechen. Daher sind die schwächeren Politiker die größten Heuchler.
Tacitus sagt: „Livia passte gut zu den Künsten ihres Gatten und zu den Heucheleien ihres Sohnes“, wobei er die Künste – und die Politik – dem Augustus und die Heuchelei dem Tiberius zuschrieb. Und als Mucianus den Vespasian ermuntert, die Waffen gegen Vitellius zu ergreifen, sagt er: „Wir erheben uns weder gegen das schneidende Urteilsvermögen des Augustus noch gegen die äußerste Vorsicht und Verschlagenheit des Tiberius.“ Diese Eigenschaften der Staatskunst und des politischen Geschicks einerseits und der Heuchelei und Verschlagenheit andererseits sind in der Tat höchst unterschiedliche Fähigkeiten und daher streng voneinander zu trennen. Denn wenn jemand ein so scharfes Urteilsvermögen besitzt, dass er erkennen kann, was dem Lichte der Öffentlichkeit zuträglich ist, was besser geheim gehalten wird und was eher im Halbdunkel belassen werden sollte, und überdies wem und wann er was sagen kann (was wahre Staatsund Lebenskunst ist, wie Tacitus es treffend genannt hat), dann wird ihm Heuchelei als nachteilig und armselig erscheinen. Aber wenn jemand dieses Urteilsvermögen nicht besitzt, dann neigt er eher zu Heimlichkeit und Heuchelei. Denn wenn jemand in bestimmten Dingen nicht zu einem Entschluss kommen kann, ist es gut für ihn, den sichersten und vorsichtigsten Weg zu wählen, so wie man behutsam vorwärts geht, wenn man nicht gut sehen kann. Die fähigsten Menschen, die je gelebt haben, besaßen allesamt eine große Offenheit und Geradlinigkeit und standen im Ruf der Bestimmtheit und Aufrichtigkeit, denn sie waren wie gut dressierte Pferde, die genau wissen, wann sie anhalten und wann sie abbiegen müssen. Und wenn es tatsächlich einmal für sie notwendig gewesen sein sollte, zu heucheln, wurde dies von ihrem guten Ruf der Aufrichtigkeit und Offenheit überdeckt.
Es gibt drei Grade bei der Verschleierung und dem Verbergen der eigenen Person. Der erste Grad besteht in Verschlossenheit, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, sodass das wahre Ich unsichtbar bleibt. Der zweite Grad besteht in der negativen Form der Verstellung, die dann vorliegt, wenn jemand durch Zeichen oder Worte vorgibt, nicht der zu sein, der er in Wirklichkeit ist. Und der dritte Grad besteht in der positiven Form der Heuchelei, wenn jemand ausdrücklich und aktiv den Eindruck erweckt, er sei ein anderer als der, welcher er in Wirklichkeit ist.
Was den ersten dieser Grade, die Verschwiegenheit, angeht, so ist dies in der Tat die Tugend des Beichtigers. Gewisslich hört der Verschwiegene viele Geheimnisse, denn wer würde sich einem Schwätzer oder einem Ausplauderer anvertrauen? Aber wenn ein Mensch als verschwiegen angesehen wird, lädt er zur Offenheit ein, so wie die eingeschlossene Luft die Außenluft ansaugt. So wie bei der Beichte die Enthüllungen nicht zum weltlichen Gebrauche gedacht sind, sondern zur Gewissenserleichterung des Beichtenden, so gelangen die Verschwiegenen zur Kenntnis vieler Dinge, da die Menschen ihr Innerstes nicht den anderen mitteilen, sondern zu ihrem eigenen Nutzen entlasten wollen. In wenigen Worten ausgedrückt: Verschwiegenheit lockt Geheimnisse an. Außerdem ist, um die Wahrheit zu sagen, Nacktheit sowohl am Körper als auch am Geiste reizlos, und deshalb werden das Benehmen und die