Einstürzende Gedankengänge. Ulrich Land

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Einstürzende Gedankengänge - Ulrich Land Mord und Nachschlag

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Wieso denn Fieber?«, und endlich hält diese Kerstin Engelsberg den Zeitpunkt für gekommen, in Tränen auszubrechen. »Er ist also elend zugrunde gegangen?«, resümiert sie stammelnd und schluchzt noch einmal herzzerreißend.

      Aber du bist noch nicht zufrieden, willst noch mehr aus dieser Situation rausholen. Du weißt genau, so waidwund kriegst du diese – ja, soll man sagen: Mutter? – nie wieder vor die Flinte. »Kann es sein, Frau Engelsberg, dass Sie sich mit Ihrem Sohn überfordert fühlten? So jung, wie Sie sind.«

      »Was soll denn das heißen?« Augenblicklich ist das Gejammer verstummt, und sie blitzt dich mit nadelspitzem Blick an. Ein Blick, mit dem sie wahrscheinlich jeden bedient, der sich ihr von Amts wegen auf weniger als zehn Meter nähert. Hartz-IV-Sozialarbeiter, Jugendamtsmenschen, Familienberatungsstelle – du musst unbedingt rauskriegen, wer sich schon alles in den Vorgang Engelsberg eingeklinkt hatte. Aber das kommt später. Jetzt zückst du erst mal die Handschellen und ...

      »Moment mal!«

      Es gibt Momente, da könntest du deine Kollegin so was von an die Wand quacken! Wieso jetzt »Moment mal«? Die Mahnemannsche nimmt dich zur Seite und lispelt dir irgendwas von wegen beileibe nicht ausreichendem Anfangsverdacht ins Ohr. Bloß weil die Engelsberg die Mutter sei, heiße das ja noch lange nicht ... reiche auf alle Fälle nicht, sie mir nichts, dir nichts in U-Haft zu stecken ... sei doch zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig spekulativ, dass die Frau am Hungertod des Kleinen beteiligt sein könnte.

      »Beteiligt, was heißt denn hier beteiligt?!«, willst du grade lospoltern, als die Mahnefrau dir auf den Fuß tritt und den mahnenden Zeigefinger zu den Lippen führt. Ja, ist ja schon gut, du flüsterst ja schon. Aber das heißt noch lange nicht ... obwohl, doch, sieht verdammt so aus, als wär’ dein Widerstand schon gebrochen. Du merkst, wie von deinen Einsichten und Argumenten nur noch Fransen übrig bleiben, nichts als blinder Zorn.

      Du begibst dich also zähneknirschend zurück in die Arena und brummst dieser Frau zu, die dreist genug ist, sich Mutter zu nennen: »Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Bitte verlassen Sie in den nächsten Tagen auf keinen Fall die Stadt!«

      »Wieso, warum?«, geht die Engelsberg hoch. Und im gleichen Moment bereust du wie der Bischof von Trier seine schlimmste Sünde, dass du da grade so butterweich eingeknickt bist.

      »Nun beruhigen Sie sich erst mal«, springt die Mahnemannsche in die Alleinerziehenden-Bresche, »sollen wir Ihnen fürs Erste einen Kollegen hierlassen?«

      »Oder eine Kollegin?«, schwenkst du ein, »Frau Mahnemann könnte Ihnen sicher ...«

      »Nein nein, geht schon.«

      Sie dreht sich auf dem Absatz rum und stiefelt die Treppe hoch, nicht ohne unterwegs noch mal den einen oder andern Schluchzer abzusondern. Du glaubst ihrem Geheule kein Wort. Um etwas wenigstens einigermaßen Plausibles zu tun, gibst du der Mahnemann zu verstehn, dass dich hier nichts mehr, aber auch absolut überhaupt gar nichts mehr hält. Du legst die Hände auf die Schultern deiner Kollegin und schiebst sie mit einem Druck, der keinen Widerspruch duldet, nach draußen.

      »Mist«, sagst du, was Geistreicheres fällt dir nicht ein, »ein Mist, ein verdammter. Können Sie mir vielleicht mal sagen, wieso ich Ihnen auf einmal so lammfromm nachgebe?!«

      Von der Mahnemannschen kommt kein Kommentar. Aber damit war ja nun auch nicht zu rechnen. Sie scheint das alles weniger eindeutig zu sehn; hat eben nicht deinen geschärften, erfahrungsgeschulten Blick. – Du Erfahrungen? Mit weggesperrten Kindern? Was für Erfahrungen? Wo und wann denn? Will dir partout nicht einfallen. Komisch, wie kommst du darauf, du hättest Erfahrungen mit so was?

      »Tja, Sheriff, und was wird jetzt aus unserm Essen heute Abend?«

      »Ist mir im Moment nicht nach.«

      »Im Moment. Im Moment mir auch nicht. Aber bis heute Abend ist ja noch einiges Wasser die Mosel hinabge...«

      »Ist mir unbegreiflich«, weil’s dir einfach unbegreiflich ist, beim besten Willen unbegreiflich, »wie Sie, grade als Frau, ich meine – keine Ahnung, versteh ich nicht, wie Sie jetzt ans Essen denken können.«

      »Heh, Moment mal, Sie sind doch sonst auch nicht grade zartbesaitet. Im Übrigen ist das ja nun wahrlich nicht unser erster ungemütlicher Fall, Herr Dollinger. Erinnern Sie sich noch an das ›Allerweltsmotto‹, wie Sie’s nannten, das ich mir, als ich als Greenhorn in Ihre Dienste trat, in solchen Fällen immer zuflüstern sollte: Das Leben geht weiter!«

      »Na ja, vielleicht ... vielleicht haben Sie ja recht. Außerdem – ich hab immerhin Sauerbraten in der Röhre. Vom Eifeler Hirschkalb, ich sag’s Ihnen! Rezept von meiner Großmutter, Gott hab sie selig.«

      Du wirfst dich in deine Blechpocke, drückst erst mal eine andere CD in den Schlitz, Volume bis zum Anschlag, bevor du dem Tier unter der Motorhaube Zunder gibst. Es gibt Tage, da sind Triers Straßen einfach zu klein, zu eckig, zu gewunden. Du hebst ab mit den Flügeln dieser messerscharfen Stimme auf grobgehauenen Klängen: »Halber Me-ensch. Halber Me-ensch, geh weiter, in jede Richtung. Halber Me-ensch!« Wieso eigentlich halber? Und die zweite Hälfte, was ist mit der? Wo ist die zweite Hälfte hin?

      - . -

       4

      Black-out. Sturz.

      Muss wohl, wird wohl. Das begreifst du erst jetzt, wo das Licht zurückkehrt, punktweise, Lichtflocken durch deinen Kopf tanzen lässt. Lichtspieltheater isländisch. Fast wie die Sonne, die in den Frühlingstagen deiner Kindheit durch die Baumkronen des Mattheiser Walds gegenüber sickerte und ein Lichtschattenlichtspiel auf den Boden der Küche zauberte.

      Scheiße, das Kinn, ein einziger brennender Schmerz. Aber als du’s vorsichtig am Ärmel vorbeistreichen lässt, siehst du, dass es kaum blutet. Und die Zähne, jetzt merkst du erst, dass der ganze Kiefer schmerzt, die Schneidezähne, als hätte dir einer mit dem Hammer unter’n Unterkiefer gezimmert. Du hast keine Ahnung, aber allzu viele Zähne können nicht mehr fest in ihrer Verankerung sitzen. Du tastest sie vorsichtig mit der Zunge ab und jaulst bei jeder Berührung auf. Eins ist klar: Es hat dich richtig übel erwischt. Dein ganzer Kopf rumort. Und dann wird dir übel, dir wird speiübel, so was von ...

      - . -

       5

      »Die Fingerabdrücke am Trinknapf des Jungen, das stimmt alles. Und die Umrisse des blauen Flecks auf seinem Rücken decken sich genau mit der Hand der Mutter.«

      Deine Assistentin redet und redet. Textet sämtliche Löcher in deinem Kopf zu. Der Redeschwall genau deckungsgleich mit den Löchern in diesem Schweizer Käse, der sich Hirn nennt. Da redet eine auf dich ein, quasselt, als wenn sie’s bezahlt be... Redet, redet, und du hast alle Mühe, deinen Gedanken von grade festzuhalten. Dass der dir nicht zerfleddert, wo du dabei bist. Und je mehr du deinen Gedankenfaden festhalten willst, je dichter du dich für das Gequatsche deines Gegenübers machst, desto mehr öffnet sich deine Faust und lässt den roten Faden rauskauen. – Erst sind sie festgefroren, die Gedanken, durchstochen von glasscharfen Kristallen, kleben unter der Schädeldecke wie Eiszapfen und knirschen eiskalt. Und wenn du sie anpacken willst, zu fassen versuchst, gehen sie dir durch die Lappen, schmelzen weg, lösen sich auf, sind plötzlich Luft, heiße Luft. War da nicht was, worüber du dich tierisch aufgeregt hast? Zwei Tage her vielleicht. Irgendwas, wo dir die Mahnemann in die Parade gefahren ist, dich irgendwie vollstoff ausgebremst hat. Und dir ist, als hättest du mal wieder recht gehabt, so was von recht gehabt, aber ... aber du weißt verdammt nicht mehr, worum es ...

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