Kennen wir uns?. Silke Weyergraf
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Das Hupen brach abrupt ab und die zuvor nervös wirkenden Stimmen begannen, sich in ruhigem Ton zu unterhalten. Die Worte klangen sehr technisch und für eine private Kommunikation zu eintönig. Sie erkannte eine Männerstimme und zwei oder mehr Frauenstimmen. Zudem mischte sich nun ein rhythmisches Piepen zu den entfernteren Gesprächen. Da sich dieses Piepen aber gleichmäßig an ihren Herzschlag anpasste, hatte es eine beruhigende und einschläfernde Wirkung auf Jenny. Kurz wehrte sie sich dagegen, fiel dann aber erneut in einen tiefen Schlaf.
Jenny lag verkabelt und mit Sauerstoffmaske versehen in einem Krankenhausbett auf der neurochirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik Münster. Umgeben von diversen medizinischen Geräten, dem Geruch nach Desinfektionsmittel und alarmierenden Tönen der die Körperfunktionen überwachenden Technik, befand sie sich wieder in einer tiefen Bewusstlosigkeit. Während des Notfalls hatten die wachsamen Pfleger und Schwestern der Intensivpflege das kurze Erwachen der jungen Frau nicht bemerkt. Im Nachbarzimmer war das Herz eines Patienten in ein Kammerflimmern gefallen. Die Überwachungsgeräte hatten Alarm geschlagen und den Hupton ausgelöst. Sofort waren alle auf der Station anwesenden Pflegekräfte, einer davon mit Brett, ein anderer mit Defibrillator, zu dem lebensbedrohlich erkrankten Mann geeilt. Geübt in der Bewältigung solch belastender Stresssituationen, hatten sie die nötige Ruhe bewahrt und sich in klarem und eindringlichem Ton Anweisungen zugerufen. Das Brett wurde unter den frisch Operierten geschoben und der Elektroschlag des Defibrillators hatte eine Spannung ausgelöst, die den ganzen Körper des bewusstlosen Mannes einige Zentimeter vom Bett hochhob und erschlafft wieder zu Fall brachte. Bereits ein Schlag des Elektroschockers hatte genügt und dem im Übergang zum Tod befindlichen Patienten wieder zu einem funktionstüchtigen Herzschlag verholfen. Kurz hatten sich die Pflegenden erleichterte Blicke zugeworfen. Nachdem der diensthabende Arzt weitere therapeutische Maßnahmen eingeleitet hatte, ging jeder wieder seinen eigentlichen Aufgaben nach. Als Pfleger Andreas an Jennys Bett trat, um nach der Infusionsnadel, die sich an ihrer linken Hand befand, zu schauen, atmete seine an Kopf und Unterschenkel verletzte Patientin ruhig und die Geräte zeigten keine Veränderungen der Vitalfunktionen.
Nachdem Andreas sich zum Intensivpfleger weitergebildet hatte, arbeitete er seit über drei Jahren auf der Station. Er war bei den Kollegen aufgrund seiner kompetenten und ruhigen Art beliebt und der Job erfüllte ihn sehr. Gestern Abend hatte er einen ruhigen Dienst verrichtet, bis die 37-jährige Lehrerin nach einem schweren Autounfall auf einer Landstraße in Münster Gievenbeck auf seine Station gebracht wurde. Aus noch ungeklärter Ursache war sie mit ihrem Kleinwagen in einer Kurve gegen einen Baum geprallt und hatte sich dabei eine komplizierte Unterschenkelfraktur und eine bisher nicht genau einschätzbare Gehirnschädigung zugezogen. Er betrachtete das Gesicht der jungen Frau, die laut beigeführten Ausweisen in Dortmund wohnte . Ihre helle Haut war mit einigen netten Lachfältchen durchzogen. Die Mundwinkel waren leicht herabgezogen und es sah aus, als mache sich die Patientin sorgenvolle Gedanken. Die dunkelblonden Haare hatte Andreas zurückgekämmt und mit einem Haargummi zusammengebunden. Die rechte Stirnseite war mit Mullbinden aufwendig abgedeckt, da sich die Frau dort bei dem Aufprall auf das Armaturenbrett ihres Autos eine große, offene Wunde zugezogen hatte. Anscheinend war sie am Airbag vorbeigeschleudert worden. Auf der linken freien Stirnseite entdeckte er eine kleine alte Narbe. Nachdem er die Verunglückte gestern versorgt hatte und alle Körperfunktionen soweit stabil gewesen waren, hatte er die Klinik erschöpft nach zweieinhalb Überstunden verlassen. Heute, nach einer Trainingseinheit im Fitnesscenter, war er zum Spätdienst extra etwas früher gekommen, um mehr Zeit für die Kommunikation mit Angehörigen zu haben. Bisher konnte kein Familienmitglied erreicht werden. Bei der angegebenen Adresse hatte sich telefonisch nur der Anrufbeantworter gemeldet. Da es sich bei der Stimme am anderen Ende um eine männliche handelte, hatte er die Hoffnung, dass sich der Ehemann oder Freund dieser Frau heute melden würde. Hoffentlich waren keine Kinder betroffen, denn wer wusste schon, was für Auswirkungen die Hirnverletzung nach sich ziehen würde. Gut, dass die Frau noch nicht bei Bewusstsein war und keine Fragen stellen konnte. Sie hatte wirklich Glück gehabt und musste weder operiert noch intubiert werden. Lediglich eine Atemmaske und eine Infusion mit schmerzhemmenden Medikamenten wurden von den Ärzten verordnet. Vermutlich handelte es sich um ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma ohne innere Blutungen, aus dem der Erfahrung nach die meisten Betroffenen nach einigen Stunden wieder erwachten. Er erinnerte sich an das schlechte Wetter am gestrigen Abend. Auch er wäre beinahe auf dem Klinikparkplatz auf einigen regendurchnässten Blättern vor seinem Auto ausgerutscht. Andreas vermutete, dass die Frau einfach Pech gehabt hatte. So etwas gab es leider immer wieder. Herbstregen in der Dunkelheit. Gegenverkehr mit blendenden Scheinwerfern und rutschige Blätter in der Kurve. Pech, wenn dann am Straßenrand noch ein stämmiger Baum stand. Das war wohl Schicksal. Obwohl Frau Jenny Hilgers die Augen geschlossen hatte, lächelte er ihr aufmunternd zu und drückte ihren Arm, als wollte er sagen: „Wird schon wieder.“
In diesem Moment öffnete Jenny unter Schmerzen die Augen und ihre Gesichtszüge verspannten sich zu einer gequälten Grimasse. Sie erkannte einen in blau gekleideten, braun gebrannten und blondierten Mann vor sich, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Stimme allerdings kam ihr bekannt vor. Andreas liebte diesen Augenblick, wenn Menschen nach schweren Unfällen wieder in die Realität eintauchten, und erfreut begrüßte er die soeben aus der Bewusstlosigkeit erwachte Jenny.
„Guten Tag, Frau Hilgers. Ich bin Pfleger Andreas. Sie befinden sich auf der Intensivstation des Universitätsklinikums in Münster. Wie geht es Ihnen?“, fragte er mit leiser, erwartungsvoller Stimme. Behutsam und den Blickkontakt haltend entfernte er die Atemmaske, die Jenny bis zu diesem Zeitpunkt mit Sauerstoff versorgt hatte. Ein kurzer Blick auf das Oximeter, das den Sauerstoffgehalt im Blut darstellte, gab ihm Gewissheit, dass bei seiner Patientin alles in Ordnung war.
„Intensivstation?“, fragte Jenny mit rauer, kraftloser Stimme und schloss erschöpft die Augen.
Um Jennys Aufmerksamkeit zu halten, antwortete Andreas mit einer ausführlichen Beschreibung der Geschehnisse.
„Gestern Abend hatten Sie mit Ihrem Auto einen Unfall auf dem Horstmarer Landweg in Münster Gievenbeck. In einer Kurve sind Sie ins Schleudern geraten und vor einen Baum geprallt.“ Andreas wartete auf eine Reaktion und konnte erkennen, wie sich Jennys Augenbrauen zusammenzogen. Nach einiger Zeit öffnete Jenny die Lippen und sagte gequält: „Ein Reh, in der Kirche.“
Andreas rechnete mit allem. Viele seiner Patienten brauchten Tage bis Wochen, um wieder alle Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen richtig zeitlich einordnen zu können. Aber scheinbar hatte Frau Hilgers seinen Wortlaut verstanden. Denn es konnte durchaus sein, dass bei einem Unfall auf der ländlichen Straße ein Reh Ursache für den Verlust der Fahrzeugkontrolle war. Aber wieso seine Patientin eine Kirche mit dem Reh in Verbindung brachte, war spekulativ. Wahrscheinlich vermischte sie verschiedene Erlebnisse und konnte ihre Gedanken noch nicht sortieren.
Andreas fragte nach: „Ist Ihnen ein Reh vor das Auto gelaufen, Frau Hilgers?“
Jenny konnte nicht antworten, denn in ihr stieg eine Traurigkeit empor, die ihren Hals wie mit einem Kloß füllte und abdrückte. Tränen rannen über ihre Wangen und verliefen sich hinter den Ohren in ihren Haaren. Gedanken überschlugen sich und unterschiedlichste Erinnerungen reihten sich wild aneinander. Eine laute Sopranstimme donnerte ein „Ave Maria“ und Bilder von den roten Schuhen ihrer besten Freundin Marla mischten sich mit ausdruckslosen Gesichtern ihr bekannter Menschen. „Es ist Schluss“, hörte sie ihren Freund Nick sagen und plötzlich erschallte ein lauter „Heil Hitler“-Ruf.
„Nein!“, schrie Jenny und stöhnte auf vor Schmerzen. Sofort reagierte Andreas und rief über Funk