Kennen wir uns?. Silke Weyergraf

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Kennen wir uns? - Silke Weyergraf

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hatte ihren letzten Ton erklingen lassen, und es stellte sich wieder die beängstigende Realität ein. Jenny wagte es nicht, die Augen zu öffnen, konnte aber die Worte ihrer Mutter uneingeschränkt erfassen.

      „Jenny, wie kannst du uns so etwas antun?“, schluchzte ihre um Fassung ringende Mutter. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht“, sagte sie durch ein zerknittertes Taschentuch, mit dem sie sich die Nase putzte.

      Jenny zeigte keine äußere Reaktion, aber Pfleger An­dreas bemerkte in seinem Dienstzimmer, dass der Puls der Patientin auf Zimmer drei eine erhöhte Frequenz aufwies. Er betrachtete das Überwachungsbild, konnte aber nichts Beunruhigendes erkennen. Vielleicht freute sich die Tochter über den Besuch der Eltern, was ihr Herz schneller schlagen ließ.

      Unter nun kaum noch zu unterdrückenden Tränen flüsterte Frau Hilgers: „Was ist mit Nick? Ihr wolltet doch heiraten. Warum lässt du ihn so einfach gehen?“

      Nun schaltete sich der zunächst ruhig an der Scheibe stehende Vater ein und trat neben seine Frau, um sie zu beschwichtigen: „Elisabeth. Nun ist es wirklich genug. Jenny hatte einen schweren Unfall und es ist nicht an der Zeit, alle Probleme der Welt zu diskutieren.“ Er streichelte Jennys Hand und sagte weich: „He, mein Mädchen. Hörst du mich?“

      Aber Jenny reagierte nicht und hielt ihre Augen geschlossen. Erneut überfiel sie eine Traurigkeit und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Frau Hilgers entdeckte eine Träne, die langsam die Wange ihrer Tochter hinunterlief, und aufgeregt sagte sie: „Siehst du, Harald. Sie hat mich verstanden. Sie weint.“ Ihre restliche Fassung war gebrochen und schluchzend lief sie aus dem Krankenzimmer. Im gleichen Moment hatte sich Andreas von seinem Stuhl erhoben, denn der Puls seiner Patientin war auf eine belastende Frequenz gestiegen. Er wollte die Eltern bitten, die Tochter kurz ruhen zu lassen, doch kam ihm auf dem Gang bereits Frau Hilgers, tränenüberströmt und geräuschvoll ins Taschentuch schnäuzend, entgegen: „Was hat meine Tochter? Warum sagt sie nichts?“

      Andreas nahm die schluchzende Frau in den Arm und führte sie behutsam in eine etwas abgelegene Sitzecke. Auf einem Beistelltisch zwischen zwei Holzstühlen stand ein bunt blühender Blumenstrauß und an der Wand darüber hing ein farbenfrohes großformatiges Bild. Hier war der richtige Ort, um wieder etwas Abstand zu gewinnen, fand Andreas. Frau Hilgers setzte sich und bemühte sich um aufrechte Haltung. Nach kurzer Zeit der Stille, in der Andreas einfach nur neben ihr stand, kam auch Herr Hilgers zu der kleinen Sitzecke und nahm mit einem tiefen Seufzer auf dem noch freien Stuhl Platz. Er stellte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen die Stirn. Er fand als erster Worte und fragte ausdruckslos: „Was ist nun mit unserer Tochter? Ist sie schwer verletzt?“

      Andreas antwortete behutsam, aber er wusste, dass Beschwichtigungen ebenso unangebracht waren wie weit vorausschauende Vermutungen.

      „Ihre Tochter hatte wirklich Glück. Sie hat sich bei dem Autounfall auf regennasser Fahrbahn eine schwere Unterschenkelfraktur, also einen Bruch, zugezogen. Zudem ist sie vermutlich hart mit dem Kopf auf das Armaturenbrett geknallt und hat sich dabei ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen.“ Andreas bemerkte, dass beide Eltern nervös auf den Sitzflächen hin und her rutschten und fügte schnell hinzu: „Aber es sind keine Blutungen im Schädel nachzuweisen, sodass eine baldige Genesung mit großer Wahrscheinlichkeit in Aussicht steht. Alles Weitere müssten Sie aber mit dem diensthabenden Arzt besprechen.“

      Nachdem die Eltern keine weiteren Fragen stellten, schlug der Pfleger vor, dass es bestimmt sinnvoll wäre, einen kurzen Spaziergang durch die frische Luft zu machen, um danach noch einmal nach der Tochter zu schauen.

      „Aber bitte warten Sie auf Zeichen von Ihrer Tochter. Wir müssen alle Geduld haben.“

      Mit diesen Worten verabschiedete er sich von den nachdenklichen Eltern, da seine Kollegin Manuela seine Hilfe anforderte.

      Das Ehepaar Hilgers folgte dem Rat des sympathischen Pflegers und fand, nach einigen Irrwegen durch die unzähligen Gänge des riesigen Universitätsklinikums, einen Weg um das Zentralklinikum. Etwas erfrischt und der größten Last enthoben, trafen sie nach gut einer halben Stunde wieder auf der Intensivstation ein. Wie es Andreas empfohlen hatte, traten sie ohne große Worte an das Bett ihrer Tochter, umfassten fest ihre Hände und streichelten sanft ihre Wangen. Jenny behielt ihren nun wieder entspannten Gesichtsausdruck und als das Ehepaar Hilgers sich mit gegenseitigen Blicken zum Aufbruch bewegen wollte, öffnete Jenny die Augen und sagte leise: „Danke. Es tut gut, dass ihr da seid.“

      Frau Hilgers wandte sich vom Bett ab, denn ihr standen erneut die Tränen in den Augen. Jennys Vater beugte sich vor, um Jenny in die Augen zu sehen und erwiderte: „Jenny, ruh dich gut aus. Bald geht es dir besser und dann können wir über alles reden.“ Liebevoll kniff er seiner Tochter leicht in die rechte Wange und endete: „Sei stark, mein Mädchen, ja? Wir kommen morgen wieder.“

      Jenny schloss erschöpft die Augen. Sie war dankbar, ihre Eltern gesehen zu haben und war sich sicher, dass nun alles schnell besser würde. Den Aufbruch der Eltern zurück in ihre gemeinsame Heimat Dortmund registrierte Jenny nicht mehr. Auch die ärztliche Visite vernahm sie lediglich aus der Ferne, wobei die sie untersuchenden Mediziner dennoch zufrieden mit der Reflextätigkeit und der Vitalität der Körperfunktionen ihrer Patientin waren.

      Jenny schlief tief und fest und wachte erst auf, als die Krankenschwester des Frühdienstes zum Waschen an ihr Bett trat. Die Wunde an ihrem Unterschenkel verheilte wie im Lehrbuch beschrieben und die Schmerzmedikation konnte reduziert werden. Zwar musste sich Jenny aus Angst vor Kopfschmerzen sehr behutsam bewegen, aber bereits am Mittag konnte sie etwas Gemüsesuppe schlürfen. Nach einer erneuten Visite wurde entschieden, Jenny am nächsten Vormittag auf die unfallchirurgische Station des Hauses zu verlegen. Alle waren sehr zufrieden mit der Genesung und es bestanden kaum noch Bedenken über vollständige Heilung. Jenny war etwas enttäuscht, denn sie hatte sich mit der offenen und einfühlsamen Art ihres Lieblingspflegers angefreundet und glaubte, auf der neuen Station sicherlich kein solches Glück wie mit Andreas zu haben.

      Nachmittags erhielt sie erneut Besuch von ihren Eltern, die sich bemüht oberflächlich mit Jenny unterhielten. Thea, ihre Freundin aus Kölner Studienzeiten, die mit ihrem Mann und einer Tochter in der Nähe des Klinikums wohnten, ließ Grüße ausrichten. Kurz wurde ihr der schicksalhafte Abend vor Augen geführt, denn eigentlich wollte Jenny unangekündigt bei Thea nächtigen. Sie verdrängte aber diesen, ihr Kopfschmerzen bereitenden, Gedanken und ließ sich stattdessen Dortmunder Neuigkeiten berichten. Ihre sechsjährige Nichte Emely, Tochter ihres großen Bruders Markus, hatte bei ihrem ersten Handballturnier gleich drei Tore erzielt. Und ihr jüngerer Bruder Jens lebte zum Leidwesen der besorgten Mutter wieder im Elternhaus, nachdem sich seine langjährige Freundin von ihm getrennt hatte und er aus der gemeinsamen Wohnung in Bochum ausziehen musste. Besorgniserregend waren nach Aussagen der Mutter vor allem die langen nächtlichen Sitzungen ihres jüngsten Sprosses am Computer.

      3

      Am nächsten Morgen wurden all ihre Habseligkeiten gepackt. Schwester Mia, eine gelangweilte 20-Jährige, fuhr Jenny im Bett über mehrere Flure und Aufzüge, durch geschäftiges Kliniktreiben auf die unfallchirurgische Station. Jenny durfte nach wie vor nicht aufstehen, da das gebrochene Bein noch nicht eingegipst war. Das sollte auf der neuen Station als Erstes geschehen, da die Wunde, dank der fürsorglichen Pflege von Andreas, gut verheilt war und einer konservativen Behandlung des Bruches nichts mehr im Wege stand. Ein Vorteil, nun auf der normalen Station zu liegen, war, dass Jenny endlich wieder ihr Handy nutzen durfte. Wegen der Empfindlichkeit der Überwachungsgeräte auf der Intensivstation war dort die Nutzung von Mobilfunk nicht erlaubt. Gut, dass ihre Eltern einige Hörbücher – klassische Frauenliteratur – mitgebracht hatten. Jenny liebte historische Romane, aber ihre Mutter wollte sie schonen und ihr keine zu schwere Kost zumuten. So wurde die Zeit, als Jenny schon wieder auf dem aufsteigenden Ast war, nicht zu lang. All die Gedankenfetzen,

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