Die Belagerung von Krishnapur. James Gordon Farrell
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Im Moment war er allein in seinem Büro, einem von mehreren Räumen in einem Teil der Residenz, der den Regierungsgeschäften vorbehalten war. Er mochte diesen Raum nicht; die kahle, amtliche Atmosphäre missfiel ihm, und gewöhnlich zog er es vor, in seinem Studierzimmer zu arbeiten, das sich in einem wohnlicheren Teil des Gebäudes befand. Das Büro enthielt nur ein paar überfüllte Regale, einige Holzstühle für jene seltenen Besucher, die dank ihres Ranges berechtigt waren, in seiner Gegenwart zu sitzen, und den unordentlich mit Papieren und Gesandtschaftstruhen übersäten Schreibtisch; wer auch immer die beleidigenden Chapatis daraufgelegt hatte, hatte ihnen erst Platz schaffen müssen. An einer Seitenwand hing ein Portrait der jungen Queen, mit ziemlich hervorspringenden blauen Augen und einer energischen Ausstrahlung.
Verstört, ohne sich noch zu erinnern, warum er eigentlich ins Büro gegangen war, kehrte er langsam zur Eingangshalle der Residenz zurück, mit der Frage beschäftigt, ob gewisse Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Auswirkungen dieser sich anbahnenden, aber noch hypothetischen Unruhen zu mildern oder sie gänzlich abzuwenden. »Nur einmal angenommen, in Krishnapur brächen ernsthafte Unruhen aus … ein Aufstand zum Beispiel … wo könnten wir Zuflucht finden? Könnte die Residenz, nur interessehalber natürlich, verteidigt werden?«
Während er, dies abwägend, in der Eingangshalle stand, empfand der Collector ein Gefühl von Kälte und großer Ruhe. Tagsüber kam das Licht hier von weit her; es drang unter den niedrigen Bögen der Veranda, über kühle Bodenplatten, durch die grünen, als jilmils bekannten Jalousien vor den Fenstern, die in die ungeheuer dicken Wände eingelassen waren, ins Innere, und gelangte schließlich als angenehmes, reflektiertes Dämmerlicht dorthin, wo er gerade stand. Man fühlte sich sehr sicher hier. Die Wände, die aus enormen Mengen der rosaroten, waffelähnlichen Backsteine Britisch-Indiens bestanden, waren so unglaublich dick … man sah es doch, wie dick sie waren.
Die Residenz hatte mehr oder weniger die Gestalt einer Kirche, das heißt, wenn man sich eine Kirche vorstellen kann, die über den Altar betreten wird. Vom Eingang aus gesehen, auf dem Altar stehend und den Blick geradeaus, bestand das Querschiff zur Linken aus einer Bibliothek, wohlbestückt mit allem, außer Büchern, die nur spärlich vorhanden waren, manche ausgeliehen und nicht zurückgebracht, andere von den allgegenwärtigen Ameisen aufgefressen oder einfach wer weiß wohin verschwunden; noch andere, eingesperrt, stemmten ihre Rücken verdrießlich gegen die Glasscheiben von Bücherschränken, deren Schlüssel verlorengegangen waren … und zur Rechten aus dem Gesellschaftszimmer, vornehm, weitläufig und anmutig; direkt vor einem, im Mittelschiff, lag eine prachtvolle Marmortreppe, ein Relikt aus den Glanzzeiten von Krishnapur, als die Dinge noch ordentlich gemacht wurden. Hinter der Treppe nahm das Esszimmer, gefolgt von einer Reihe anderer Räume, die irgendwie mit Essen oder mit europäischen Dienstboten oder mit Kindern zu tun hatten, den Rest des Mittelschiffs ein, welches beidseitig von tiefen Veranden gesäumt war. Das Gebäude war zweistöckig, wenn man von den Zwillingstürmen absieht, die etwas höher aufragten. Auf einem dieser Türme flatterte von früh bis spät der Union Jack; auf dem anderen stellte der Collector gelegentlich ein Teleskop auf, wenn ihn die Stimmung überkam, den Himmel zu erforschen.
Erneut ins Sinnieren über die Chapatis verfallen, zuckte der Collector zusammen, als aus der offenen Tür des Gesellschaftszimmers eine laute Männerstimme drang. »Der menschliche Geist«, erklärte die Stimme in einem Ton, der nicht zur Diskussion einlud, »ist mit einem umfangreichen Apparat mentaler Organe ausgestattet, die ihn befähigen, seine Energien zu manifestieren. So ist er in der Lage, mithilfe optischer und akustischer Nerven zu sehen und zu hören; mithilfe eines Organs der Vorsicht empfindet er Angst, mithilfe eines Organs der Kausalität urteilt er vernünftig.«
»Was für ein Unsinn!«, murmelte der Collector, der die Stimme als die des Magistrate* erkannt und sich nun daran erinnert hatte, dass er selber in diesem Moment im Gesellschaftszimmer sitzen sollte, wo gleich die vierzehntägliche Zusammenkunft der Poetry Society von Krishnapur beginnen würde … in der Tat schon begonnen hatte, da sich der Magistrate in einer Rede erging, wenn auch offenbar nicht über Poesie.
»Dr. Gall aus Wien, der diese bemerkenswerte Wissenschaft entdeckte, war schon in seiner Schulzeit darauf aufmerksam geworden, dass diejenigen unter seinen Kameraden, die am besten auswendig lernen konnten, zu Glubschaugen neigten. Nach und nach fand er auch äußerliche Merkmale, die auf eine Begabung für Malerei, Musik und Handwerkskünste hinwiesen …«
»Ich muss wirklich reingehen«, dachte der Collector, und während er sich darauf besann, dass es in seiner Eigenschaft als Präsident der Society schließlich seine Pflicht sei, tat er ein paar entschlossene Schritte auf die Tür zu, zögerte aber wieder, diesmal in der Türöffnung verharrend. Von hier aus sah er ein Dutzend Ladies aus dem Kantonnement ängstlich auf Stühlen sitzen, dem Magistrate zugewandt. Viele der Ladies hielten dicht beschriebene Papierbündel mit selbstgereimten Versen, und es war der Anblick all dieser Verse, der den Collector im letzten Moment unwillkürlich hatte innehalten lassen. Hinter den Ladies saßen seine vier älteren Kinder, zwischen vier und sechzehn Jahren alt, alles Mädchen (die beiden Jungen gingen in England zur Schule), in einer verzweifelten Reihe. Sie beteiligten sich nicht an diesen Veranstaltungen, aber er hielt es für gesund, sie künstlerischem Streben auszusetzen. Nur das Fehlen des Jüngsten, ein Baby noch, war entschuldigt.
Ohne zu bemerken, dass der Präsident ihrer Society an der Tür verweilte, starrten die Ladies den Magistrate wie hypnotisiert an, doch höchstwahrscheinlich hörten sie kein Wort von dem, was er sagte; ihnen war viel zu bange um das Schicksal ihrer Verse, als dass sie ihm hätten zuhören können bei seiner Rede über Phrenologie, ein Thema, das nur ihn allein interessierte. Bald würde der Moment kommen, da sie ihre Werke vorlesen und der Magistrate sein Urteil darüber sprechen würde, ein Moment, den sie ebenso herbeisehnten, wie sie ihn fürchteten. Der Collector hingegen fürchtete ihn nur. Nicht wegen des Niveaus der Dichtungen, sondern weil das Urteil des Magistrate unveränderlich gnadenlos ausfiel, und manchmal, wenn er sich echauffierte, an Beleidigung grenzte. Warum die Ladies das ertrugen und alle zwei Wochen wiederkamen, um ihre Gedichte derartigen Demütigungen preiszugeben, war dem Collector unbegreiflich.
Dennoch war kein anderer als er selbst für diese vierzehntägliche Tortur verantwortlich, denn er hatte die Society gegründet. Teils, weil er leidenschaftlich an die veredelnde Kraft der Literatur glaubte, und teils, weil es ihm leidtat um die Ladies aus dem Kantonnement, die insbesondere während der heißen Jahreszeit so wenig Beschäftigung hatten. Zuerst hatte er sich über die Begeisterung der Ladies gefreut und seinen Plan für einen Erfolg gehalten … aber dann hatte er den Fehler begangen, Tom Willoughby, den Magistrate, einzuladen. Der Magistrate litt an der Behinderung einer freigeistigen Denkweise und, dementsprechend, unter einem unfruchtbaren und eintönigen Leben. Zu allem Übel war er verheiratet, aber auf die zölibatäre Art, wie so viele englische »Zivilisten«. Der Collector hatte mit selbstgefälligem Mitleid auf die Ehe des Magistrate geschielt: Die aus England importierte Frau war zwei oder drei Jahre in Indien geblieben, bis die Hitze, die Langeweile und eine glückliche Schwangerschaft sie wieder nach Hause getrieben hatten. Ach, wie oft hatte der Collector diese traurige Geschichte während seiner Zeit in Indien nicht schon erlebt! Und jetzt, wenngleich später als die meisten, schien seine eigene Ehe, die in diesem beschwerlichen Klima so lange überdauert hatte,