Nirvana. Michael Azerrad
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1990 war es keinem Rock-Album gelungen, die Nummer eins der allgemeinen Album-Charts zu werden. Das veranlasste einige Experten in der Industrie sogar dazu, das Ende der Rockmusik vorherzusagen. Das Musikpublikum war von den Radio-Programmachern so sehr in einzelne Gruppen zergliedert worden, dass es immer unwahrscheinlicher schien, dass sich genügend Rock-Fans um ein einziges Album scharen würden, um es zur Nummer eins zu machen. Und während Rock immer mehr zu einer luftgetrockneten, zerkochten Pseudo-Rebellion verkam, trafen Strömungen wie Country oder Rap die Stimmungen und Anliegen der Massen viel genauer. Und dann gelang es plötzlich Nevermind, ein Publikum zu vereinigen, das noch nie einig gewesen war – diejenigen zwischen zwanzig und dreißig.
Diese „Twentysomethings“ wollten eine eigene Musik. Sie hatten genug von alten Knochen wie Genesis und Eric Clapton und wollten auch keine künstlichen Schöpfungen wie Paula Abdul oder Milli Vanilli in den Rachen geschoben bekommen. Sie brauchten etwas, das ausdrückte, was sie empfanden. Eine große Anzahl von ihnen waren Scheidungskindler. Sie lebten in dem Bewusstsein, die erste Generation in Amerika zu sein, die wenig Hoffnung darauf hatte, dass es ihr besser gehen würde als ihren Eltern. Sie waren die Generation, die die Steuerexzesse der Reagan-Ära ausbaden musste, die Generation, die ihre sexuelle Blütezeit im Schatten von AIDS verbringen musste, und die während ihrer gesamten Kindheit Albträume von Atomkriegen hatte. Sie fühlten sich machtlos bei der Rettung der gefährdeten Umwelt, und während ihres ganzen Lebens saßen entweder Reagan oder Bush – die Schöpfer eines repressiven sexuellen und kulturellen Klimas – im weißen Haus. Sie fühlten sich hilf- und wortlos.
In den Achtzigern hatten zwar viele Musiker die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Missstände angeklagt, aber die meisten von ihnen gehörten der Baby Boomer-Generation an – etwa Don Henley, Bruce Springsteen und Sting. Viele Fans erkannten diesen Protest als das, was er war: reine Pose, selbstgerecht, einem allgemeinen Trend folgend. Warum traten Duran Duran eigentlich bei Live Aid auf? Kurt Cobains Antwort auf harte Zeiten war so direkt wie nur möglich und eine ganze Menge ehrlicher. Er schrie seinen Zorn hinaus.
Es wäre falsch, Kurt Cobain als Vertreter und Sprachrohr einer Generation zu bezeichnen. Bob Dylan wäre so etwas. Doch Kurt Cobain lieferte keine Antworten, er stellte nicht einmal wirklich Fragen. Er brach in Wehklagen aus und verstummte in negativer Ekstase. Und wenn das der Sound der heutigen Jugend, der Teen Spirit, war, dann war das eben so.
Die Songs auf Nevermind hatten vielleicht auch Entfremdung und Apathie zum Thema. Aber es war Entfremdung und Apathie gegenüber Dingen, die ohnehin nicht viel zu bedeuten hatten. Im Gegensatz dazu legte die Band großen Wert auf Themen wie Feminismus, Rassismus, Zensur und vor allem Menschenfeindlichkeit. Jeder Gedanke an Passivität und Selbstmitleid wurde von der furchteinflößenden Kraft der Musik (vor allem vom explosiven Schlagzeugspiel von Dave Grohl) und dem unbestreitbar kunstvollen Aufbau der Songs hinweggefegt. Das war gefühlsbetonte Musik, die nicht aufgesetzt war. Der Erfolg von Nirvana war gleichzeitig die Ermächtigung einer machtlosen Generation.
Die Lebensgeschichten der Bandmitglieder waren ein Spiegelbild jener ihrer Generation. Alle drei stammten aus zerrütteten Familien. Alle drei (sogar ihr früherer Schlagzeuger) hatten eine schmerzliche Kindheit zu erdulden gehabt; zwei haben nicht einmal die Highschool abgeschlossen.
Obwohl man sie dem „Seattle Sound“ zurechnet, waren sie keine Band aus Seattle. Kurt Cobain und Chris Novoselic stammten aus Aberdeen, einer abgelegenen Holzfällerstadt an der Küste des Staates Washington. Die Band entstand dort und im nahegelegenen Olympia, der Heimstatt von K Records und der „Naiv Pop“-Band Beat Happening. Beides waren große philosophische, teils sogar musikalische Einflüsse für Nirvana. Wenn Kurt über Punkrock sprach, meinte er damit nicht grüne Haare und mit Sicherheitsnadeln durchstochene Nasenflügel. Er meinte das grundehrliche Do-it-yourself- und Lo-Tech-Ethos von K, Touch & Go, SST und anderen ungezügelten Indie-Labels. Punkrock ist ein Versuch, sich die Musik wieder aus dem vereinigten Reich der Konzerne zurückzuholen und sie den Menschen zurückzugeben, eine Art elektronische Volksmusik.
Die Mitglieder von Nirvana waren nie Handlanger der Industrie – sie haben das Hauptquartier ihrer Plattenfirma in L.A. genau ein Mal besucht. Nirvana definierten sich mit großer Sorgfalt als außerhalb des von Madison Avenue, den Fernsehbonzen, den großen Plattenfirmen und Hollywood ausgeheckten Mainstreams stehend. Um einen mittlerweile allgemein anerkannten Ausdruck zu gebrauchen: Nirvana verkörperten eine Alternative. Und wenn acht Millionen Menschen zum Ausdruck brachten, dass sie das auch so sahen, musste man eben den Mainstream neu definieren.
Viele Bands in den Charts machten ganz gute Musik, aber es blieb reine Unterhaltung. Nirvanas Musik zeitigte Wirkung. Sie war nicht glatt, nicht berechnend. Sie war erfrischend, angstmachend, schön, bösartig, vage und jubelnd. Und sie hatte nicht nur einen starken Rhythmus, sondern man konnte sogar mitsummen.
Die Band war nie auf der Suche nach Ruhm und noch weniger in der Lage, damit fertigzuwerden. Der Ruhm war eine Überraschung. Er erschreckte sie. Es war zu viel auf einmal. Es war schon für Chris und Dave schlimm genug, am schlimmsten aber war es für Kurt. Sie verbrachten einen Großteil des Jahres 1992 zurückgezogen, und erst am Anfang des darauffolgenden Frühjahrs waren sie fähig, alles mit etwas Distanz zu betrachten.
Dave erzählte seine Version der Geschichte im Laundry Room, einem bescheidenen Aufnahmestudio in Seattle, das er gemeinsam mit seinem alten Freund und Schlagzeugtechniker Barrett Jones besitzt. Er trug ein Button-Down-Shirt mit einem K-Records-Ansteckknopf am Revers und saß am Boden mitten unter Instrumenten, Verstärkern und Kabeln. Dabei verschlang er irgendein ungesundes Essen aus dem nahegelegenen Seven-Eleven-Supermarkt. Er wirkte weit abgeklärter, als man es ihm mit seinen vierundzwanzig Jahren zugetraut hätte. Er war sehr beherrscht; zeigte keine Anzeichen von Größenwahn, stellte aber auch sein Licht nicht unter den Scheffel. „Er ist der ausgeglichenste Bursche, den ich kenne”, sagte Kurt ganz stolz über ihn.
Dave ist der Unauffälligste der drei – schon alleine, weil er weder zwei Meter groß ist wie Chris noch der Frontman wie Kurt. Genau wie Chris besucht er regelmäßig Konzerte in Seattle und steht dabei mitten in der Menge – einfach wie jedermann. Er befand sich in einer idealen Situation, und das wusste er auch ganz genau. Er war Mitglied einer der erfolgreichsten Rockbands der Welt und konnte gleichzeitig die Leute, die ihn auf der Straße erkannten, an den Fingern einer Hand abzählen.
„Chris hat ein goldenes Herz“, sagte ein Freund der Familie. „Er ist eine gute Seele.“ Chris sprach langsam und behutsam. Obwohl er kein Intellektueller und Bücherwurm ist, hat er einen sehr tiefgehenden gesunden Menschenverstand. Er hat in jeder noch so vertrackten Situation eine ganz klare Aussage parat. Er sieht sich selber als Nachrichten-Junkie, ist sehr gut über die Zustände im früheren Jugoslawien, dem Herkunftsland seiner Familie, informiert und davon zutiefst betroffen.
Zusammen mit seiner schönen und klugen Frau Shelli besaß er ein bescheidenes Haus im eher stillen Universitätsbezirk in den Vororten von Seattle. Dort wohnten auch seine Schwester Diana und der Tourmanager Alex Macleod. Macleod war ein aufgeweckter Schotte mit Pferdeschwanzfrisur. Er war so loyal, dass er sich für jedes Mitglied der Band in die Schusslinie gewofen hätte. Robert, der Bruder von Chris, kam öfters vorbei. Es war Anfang März, und Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic Youth waren gerade auf Besuch – sie waren in der Stadt, um ihre Welttournee zu beenden. Die beiden und Mark Ami von Mudhoney waren soeben vom Platteneinkauf