Der weiße Adler. Thomas Wünsch
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Was in dieser Konstruktion einer kirchlich-staatlichen Autonomie noch fehlte, war die Organisation der polnischen Kirche in der Gestalt eines Erzbistums. Nur in dieser Form war im frühen Mittelalter auch eine volle staatliche Souveränität möglich, und die beiden aufstrebenden Staatswesen im Osten des Römisch-deutschen Reichs, Polen und Ungarn, nutzten dieses Machtmittel zur gleichen Zeit. In Polen war es der Sohn und Nachfolger Herzog Mieszkos, Bolesław I. Chrobry (»der Tapfere«, reg. 992–1025), der den entscheidenden Schritt zur kirchlich-staatlichen Emanzipation von seinem westlichen Nachbarn gehen konnte. Unterstützung bekam er dabei von einem Toten: Es war der Märtyrertod des in Pommern missionierenden böhmischen Adeligen Adalbert, der den Weg zu einem eigenen polnischen Erzbistum ebnete. Sowohl der Kaiser (Otto III.) wie der Papst (Silvester II.) verehrten den bei den Pruzzen 997 umgekommenen Missionsbischof, und der Kaiser selbst machte sich auf zu einer Pilgerfahrt, um dem inzwischen kanonisierten und in Gnesen bestatteten Freund seine Ehre zu erweisen. Es war dies die einzige friedliche Fahrt, die je ein Kaiser Richtung Polen unternommen hat. Was genau sich bei dieser Gelegenheit im Frühjahr 1000 abspielte, beschäftigt die Forschung seit Jahrzehnten – und ist dennoch nur lückenhaft zu rekonstruieren. Wenn die deutsche Forschung vom »Akt von Gnesen«, die polnische Forschung vom »Zjazd Gnieźnieński« (»Gnesener Treffen«) spricht, dann stehen immer mehrere Bereiche zur Debatte: Zum Ersten die Errichtung eines Erzbistums in Gnesen, dem die neu errichteten Bistümer Kolberg, Breslau und Krakau als Suffraganbistümer zugeordnet wurden. Damit war der Grundstock gelegt für eine eigene polnische Kirche – auch wenn erst nach einigen Jahrzehnten ein durchgängiges Funktionieren der Bistümer in Breslau und Krakau festzustellen ist, und Kolberg ganz unterging.
Detail der Darstellung des Martyriums des hl. Adalbert (Wojciech) auf der Bronzetür am Südportal der Kathedrale zu Gnesen (Gniezno), aus der Zeit um 1160
Ob Otto III. möglicherweise gar nicht in Gnesen, sondern in Prag das erste Erzbistum im slawischen Siedlungsgebiet errichten wollte, und nur das diplomatische Geschick Bolesławs I. ihn umschwenken ließ, muss Spekulation bleiben. In jedem Fall – und das wäre der zweite entscheidende Punkt – verband sich mit dem Kaiserbesuch in Polen eine symbolische Rangerhöhung des polnischen Herzogs. Bolesław I. hatte zwar keine formelle Krönung zum König erfahren, war aber nach dem Zeugnis des Chronisten Gallus Anonymus zum frater et cooperator imperii (»Bruder und Partner des Reichs«) aufgestiegen. Damit war seine Einbeziehung in die »Familie der Könige« kenntlich gemacht – und mehr: Deutlich wurde damit auch, dass sich die Ostpolitik der Römisch-deutschen Kaiser grundlegend gewandelt hatte. Aus einer missionarisch-imperialen Stoßrichtung der Politik war eine integrativ-autonomistische geworden. Was auch immer den Kaiser dazu bewogen hat, und wo auch immer der Anteil des polnischen Herrschers dabei gelegen hat, bleibt unklar. Sichtbar wird nur, dass dieser Schwenk dem Kaiser in der zeitgenössischen Publizistik nicht als Schwäche ausgelegt wurde; der beste Beleg dafür ist die Miniatur aus der Werkstatt des Reichenauer Skriptoriums, die neben den Figuren der Roma, Gallia und Germania nun auch die Sclavinia zeigt, wie sie dem Kaiser huldigen. Ostmitteleuropa, und darin Polen, stand über die Repräsentation und Personifikation als Sclavinia auch in einem bildlichen Verständnis auf einer Stufe mit den »älteren« europäischen Teilen des gerade von den Ottonen erneuerten Römischen Imperiums. Kirchliche und weltliche Eigenständigkeit Polens waren nach dem Jahr 1000 unumkehrbar geworden; es lag nun an der einheimischen Politik, was daraus gemacht wurde.
Die personifizierten Reichsteile huldigen dem römisch-deutschen Kaiser Otto III.: Sclavinia, Germania, Gallia und Roma (v. l. n. r.)
Wie im »Akt von Gnesen« bereits angedeutet, ruhte die Konsolidierung des polnischen Staates auf drei Säulen: dem Christentum, dem Römisch-deutschen Kaisertum, und der Regierungsleistung der herrschenden Dynastie der Piasten. Was das Christentum als Stabilisierungsfaktor angeht, so wird man den Effekt der damit verbundenen hierarchischen Ordnungsvorstellungen nicht unterschätzen dürfen. Das, was die spätantike und frühmittelalterliche Adelskultur bereits im westlichen Europa geprägt hatte, wurde nun auch im Europa östlich der Elbe zu einer gesellschaftlichen Stütze. Wohl gab es sogenannte »heidnische Reaktionen«, also politische Gegenbewegungen in Opposition zu der von den Piasten praktizierten »Mission von oben«, die ja immer auch eine Festigung der Herrschaft des Geschlechts bedeutete. Und man wird bei der Durchdringung der Gesellschaft mit den Normen und Werten des Christentums nicht allzu euphorisch sein dürfen; letztlich sprechen wir erst von der Zeit des 14./15. Jahrhundert, wenn wir die soziale Breitenwirkung des Christentums in Polen sehen wollen. Aber das Christentum erwies sich als zentralisierende und stabilisierende Kraft, die der Herrschaftsbildung zuarbeitete.
Auch die kaiserliche Politik förderte durch den Gedanken der Kooperation die Festigung des jungen polnischen Staatswesens. Zwar erlangte Bolesław I. Chrobry nicht die Königskrone, wie sie Stephan von Ungarn zur selben Zeit zuteil wurde – aber die hoch politischen Symbole von Mauritius-Lanze (als Replik) und Kronreif, dazu möglicherweise der Titel eines patricius (eine römische Amtsbezeichnung, die von Kaiser Otto III. wieder aufgegriffen wurde), deuten die Richtung an: Polen war vom Ansehen her ein Königreich, auch wenn die formelle Krönung noch bis 1025 auf sich warten ließ. Ablesbar ist dies nicht zuletzt an den Verbindungen, die der polnische und der sächsische Adel miteinander eingingen, dazu die Piasten und das Kaiserhaus selbst. Ohne korrespondierende Aktivität seitens der einheimischen Dynastie der Piasten wäre all dem jedoch keine Dauer beschieden gewesen. Es ist nicht ganz falsch, wenn polnische Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg die Leistung Bolesławs I. Chrobry mit derjenigen Karls des Großen verglichen. Genauso richtig ist aber die Einschätzung, dass Bolesław eine überzogene Eroberungspolitik betrieben hätte, deren Erfolge schon von seinen unmitelbaren Nachfolgern nicht zu halten waren. Dahinter steht der Versuch des Piastenherzogs, seinen Herrschaftsbereich auf das böhmische Herzogtum im Westen und die Kiewer Rus’ im Osten auszudehnen. Die Lösung für die ambivalente Beurteilung Bolesławs liegt darin, dass er als erster polnischer König symbolisch für eine neue Machtbasis steht, die sich in Ambitionen außenpolitischer Natur genauso zeigte, wie in der Fähigkeit, innere Erschütterungen zu verarbeiten. Wie auch immer man den realpolitischen Erfolg Bolesławs bemessen mag: Wenn die schriftlichen Zeugnisse ausweisen, dass sich erst mit seiner Regierung die Selbstbezeichnung natione Polonus für das junge Staatswesen verbindet, dann ist damit eine grundlegende Neuerung beschrieben, die auf eine neue Qualität des Staates und des Gemeinschaftsbewusstseins hindeutet. Die eingangs des Kapitels zitierte lobrednerische Charakterisierung seiner Politik in der ältesten polnischen Chronik des Gallus Anonymus (geschrieben am Beginn des 12. Jahrhunderts) ist Spiegel dieser Wertschätzung und treibende Kraft für ihr Weiterleben.
Hält man sich vor Augen, dass der polnische Herzog Kazimierz I. Odnowiciel (»der Erneuerer«, reg. 1034/38–1058) das Land verlassen musste, und nur die Hilfe seitens des Kaisers (Heinrichs III.) ihm die Rückkehr ermöglichte, dann erkennt man den Anteil der polnisch-deutschen Interaktion an der Stützung des polnischen Staatswesens. Kazimierz I. war es dann auch, der Masowien und Schlesien wieder unter die polnische Herrschaft zurückbrachte. Selbst gemacht war hingegen die Nachfolgeregelung, die im Testament Herzog Bolesławs III. Krzywousty (»Schiefmund«; reg. 1102–1138) getroffen wurde. Danach sollte der jeweils älteste Nachkomme innerhalb der Familie die