Der weiße Adler. Thomas Wünsch
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Dabei unterschieden sich die innenpolitischen Voraussetzungen im frühen Piastenreich nicht fundamental von den gesamteuropäischen Verhältnissen. Wie im übrigen Europa sehen wir auch in Polen einen zentralen fürstlichen Herrscher und eine Gruppe von potentes, zwischen denen sich die staatliche Macht teilt. Die Machtverteilung war dabei nicht statisch, sondern unterlag einem Wandel; und sie war auf ein gegenseitiges Einvernehmen hin ausgerichtet. Die Chronik des Gallus Anonymus berichtet von dem Respekt, den der Herzog einem Kreis ausgewählter Familien entgegenbrachte – die ihm im Gegenzug Unterstützung schuldig war. Abgesetzt von diesen Familien, die als meliores, nobiliores oder optimates in den Quellen auftauchen, war diejenige Schicht, die sich aus der alten Gefolgschaft des Fürsten entwickelte und seit dem 11. Jahrhundert den ärmeren, »niederen« Adel bildete. Ein Fortschritt im Sinne einer vermehrten Zentralstaatlichkeit war in Polen, wie im Rest Europas, der Aufbau einer differenzierten Verwaltung. Bemerkbar sind Übernahmen aus Sachsen, Bayern und Mähren, sodass insgesamt auch in Polen die karolingische Tradition der Hofämter in Erscheinung tritt. Wir begegnen den comes palatinus, camerarius, pincerna (Mundschenk), dapifer (Truchsess) und anderen.
Wie in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern Böhmen und Ungarn diente auch in Polen das Kastellaneisystem als Verwaltungsordnung auf regionaler Basis. In deren Mittelpunkt stand eine Burg mit einem Kastellan als Verwalter des zugehörigen Bezirks. Eher in dieser ostmitteleuropäischen Richtung als in Richtung der Entwicklung im Westen und Süden Europas verlief der Ausbau von Siedlungskernen in Polen. Es gab durchaus ansehnliche Bevölkerungskonzentrationen in Wollin, Kolberg, Posen, Kruschwitz, Breslau und Krakau. Markenzeichen der polnischen Entwicklung war aber eine ungleiche regionale Verteilung: Gebiete wie die Ostseeküste, der Posen-Gnesener Raum oder das obere Weichselland unterschieden sich durch ihre relativ hohe Bevölkerungskonzentration deutlich und für lange Zeit von den übrigen polnischen Landschaften. Noch bedeutsamer war möglicherweise die Qualität der Siedlungskonzentrationen, die dafür verantwortlich war, dass wir in Polen ein ostmitteleuropäisches Muster vor uns haben, kein westeuropäisches: Durch das Übergewicht der Burgherrn in den städtischen Siedlungen konnte sich keine Autonomie entfalten, wie sie in der Stadtgeschichte West- und Südeuropas prägend war. Eine tiefgreifende Änderung brachte erst die Phase der (Ost-)Kolonisation und der damit verbundenen deutschrechtlichen Stadtgründungen mit sich.
Zunächst einmal war für den weiteren Verlauf der polnischen Geschichte entscheidend, dass das Testament von 1138 die herrschende Dynastie der Piasten in drei Hauptlinien zerfallen ließ (die ihrerseits wieder in Nebenlinien aufgeteilt waren): die schlesischen, die großpolnischen und die kleinpolnisch-masowischen Piasten, von denen sich die Letzteren bald schon in eine kleinpolnische, masowische und kujawische Linie aufsplitterten. Trotz dieser Teilung der Dynastie und des Staates ging der Gedanke, dass es eine Einheit gebe, nicht ganz unter; er wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts wiederbelebt und hielt sich von da an bis zu den modernen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die polnische (mittelalterliche) Nation entstand im 11. Jahrhundert, als der Stamm der Polanen einen Teil der westslawischen Stämme unter der Herrschaft des Geschlechts der Piasten vereinte. War zunächst die Dynastie das verbindende Element für eine ganze Gruppe von Stämmen, so wurde die sprachlich-symbolische Vereinigung durch die Übertragung des Stammesnamens der großpolnischen Polanen (Poloni) auf die gesamte Bevölkerung des Staatswesens hergestellt. Erleichtert wurde dieser Zusammenschluss dadurch, dass es kaum sprachliche und andere kulturelle Unterschiede zwischen den westslawischen Stämmen gab. Vielleicht hing damit auch zusammen, dass die ersten Piastenherrscher, Mieszko I. und Bolesław I. Chrobry, die Grenzen ihrer Expansion offen ließen. Rein theoretisch hielt man offenbar sämtliche westslawischen Gebiete für den natürlichen Herrschaftsraum der Piasten; davon zeugen die Feldzüge und zeitweisen Übernahmen, die sich auf Pommern, die Lausitz, Böhmen, Mähren, Brandenburg und die Slowakei (Oberungarn) erstreckten. Einem westslawischen Gesamtstaat unter der Herrschaft der Piasten (ähnlich der Herrschaftsbildung der Rjurikiden unter den Ostslawen in Gestalt der Kiewer Rus’) stand das Römisch-deutsche Reich entgegen. Die Interessen dort gingen eher in die Richtung, die böhmischen Přemysliden und Piasten in einem Gleichgewicht zu halten und eine piastische Hegemonie zu verhindern.
Immerhin verfügte der piastische Staat über feste Grenzen, eine sprachlich-kulturell homogene Bevölkerung und eine autonome kirchliche Struktur. Die Ausbildung eines polnischen Nationalbewusstseins konnte auf dieser Grundlage vonstatten gehen. Allerdings bewirkten Faktoren wie die relativ geringe Besiedlung und die daraus resultierende schwache Wirtschaftskraft (bei verhältnismäßig hoher Belastung der Bevölkerung durch Steuern und Abgaben), dass dieses gesamtpolnische Bewusstsein in der Zeit der Teilfürstentümer einer mehr regionalen Identifikation in den einzelnen Landesteilen wich. Nach 1138 und bis ins 13. Jahrhundert hinein sehen wir so nicht nur eine ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung, je nach Region, was die höher entwickelten Landesteile wie Niederschlesien oder Kleinpolen in einen deutlichen Abstand zu schwächer entwickelten Regionen wie Masowien brachte. Es kam auch zu einer sprachlichen Differenzierung und der Verstärkung von Unterschieden zwischen den Dialekten. Ein Separatismus bei der Entwicklung der Teilfürstentümer ist unübersehbar, und er hatte auch Auswirkungen auf den Wandel im Nationsbildungsprozess, der sich im Gefolge der Einwanderung fremder Siedler aus dem Westen (Stichwort »Ostsiedlung«) ergab.
Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel
Die Verzweigung des Piastengeschlechts und das Auseinanderdriften der Teilherzogtümer zwingen dazu, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nur noch von polnischen Teilgebieten zu sprechen, kaum mehr von einem polnischen Staat. Dennoch wird man größere Einheiten erkennen können, wenn man innerhalb der polnischen Teilgebiete eine gewisse Differenz zwischen Schlesien einerseits sowie Groß- und Kleinpolen andererseits berücksichtigt; Pommern und der Deutschordensstaat in Preußen sind ohnehin separat zu behandeln. Was die Situation in Groß- und Kleinpolen von derjenigen in Schlesien unterschied, war die Ausgangsbasis für das – überall gleiche – Anliegen einer Landesentwicklung: In Schlesien siedelte die Mehrheit der slawischen Bevölkerung auf den fruchtbaren Böden, wie sie etwa um Glogau, Trebnitz, Breslau, Oppeln und Leobschütz gegeben waren. Die Siedlungsgebiete (und Schlesien selbst) waren jeweils von Wald umgeben, der als natürliche Grenze diente und nach Innen hin noch zusätzlich durch ein undurchdringliches Heckenwerk (preseka) bewehrt war. Das Siedlungswerk der Einwanderer, die nicht immer, aber doch in überwiegendem Ausmaß aus den Ländern des Römisch-deutschen Reichs kamen, konzentrierte sich zu Beginn auf die Randzonen des schon besiedelten Bereichs. Hier wurde die Kolonisation gefördert, sei es in Form des Rodens der Grenzwälder, der Urbarmachung des Bodens, des Bergbaus oder in der Anlage neuer Dörfer und Städte. Förderer dieses Landesausbaus waren die schlesischen Herzöge, aber auch die Breslauer Bischöfe, dazu die Zisterzienserklöster und ein Teil des Adels. Der frühe Beginn und die Intensität der Ostkolonisation führten dazu, dass Schlesien so etwas wie ein Paradefall der »deutschen Ostsiedlung« wurde. Davon abgesetzt vollzog sich die Kolonisation in Groß- und Kleinpolen. Auch wenn die politische Absicht, die Wirtschaftskraft der eigenen Länder zu stärken, dasselbe Motiv für den Landesausbau war wie in Schlesien, boten diese polnischen Landschaften doch ein anderes Bild. Die Bevölkerung hier war zahlreicher, und so verlief der Prozess des Landesausbaus hier von Anfang an in engerer Kooperation zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Übernahme deutschrechtlicher Formen und auswärtiger Methoden des Feldbaus erfolgte hier erst in der Folgezeit. Zwar gab es eine intensive Kolonisation auch in Groß- und Kleinpolen, gerade auch – wie in Schlesien – durch die Zisterzienserklöster,