Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger

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Vom Verlust der Freiheit - Raymond Unger

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Machtzentren geschaffen hat, bringt einen epochalen Menschenschlag hervor: den digitalen linken Spießer. […] Der neue linke Spießer betrachtet Gegenwart und Vergangenheit mit puritanischem und polizeilichem Blick und genießt es, unablässig den Wuchs der Diskurshecken zu prüfen, mit der Gartenschere in der Hand. […] Das Schlimmste an den gegenwärtigen Spießern ist nun aber nicht, dass sie ahistorisch denken, jedes (vermeintlich) verunglückte Wort zur Würde des Skandals erheben, ständig Situationen des Verdachts organisieren (Wer hat was zu wem gesagt?) oder aus den Menschen wieder reumütige Geständnistiere zu machen versuchen. Das alles ist bloß schlimm. Schlimmer als schlimm ist, dass sie sich immer noch widerständig und ›alternativ‹ fühlen, obwohl sie längst einem kulturell tonangebenden Milieu angehören. Eine unerlässliche Voraussetzung von Toleranz – und dieser Satz steht fest – liegt im ehrlichen Selbsteingeständnis von eigener Macht, auch diskursiver Macht (zum Beispiel an den Universitäten). Nur die, die wissen, dass sie über Macht verfügen, können sich überhaupt die Frage stellen, ob sie andere tolerieren, das heißt: aushalten, erdulden möchten – oder eben nicht. Hieraus folgt: Die neopuritanische Linke muss sich darüber ehrlich machen, dass ihre Adepten in vielen politisch-kulturellen Konstellationen mittlerweile zu nichts anderem als Figuren der Macht geworden sind. Bislang versuchen sie, es wortreich zu vermeiden, doch gerade sie hätten es nötig, sich einen Satz von Adorno, einem maßgeblichen Vertreter der lesenden Linken, in Erinnerung zu rufen: ›Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind‹ – mahnte dieser nämlich streng – ›ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert.‹ […] Dass heute die AfD bei manchen Wahlen mehr Arbeiter-Stimmen erhält als jede andere Partei, ist in jedem Fall auch ein trauriges Zeugnis für die naserümpfende, spießig gewordene Linke, die in ihren schlechtesten Momenten zugleich den Eindruck erweckt, einen Klassenkampf ›von oben‹ zu betreiben: eine Rebellion der tadellosen Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie gegen das schrecklich vulgäre, unaufgeklärte und politisch unkorrekte Proletariat.« 8

      Die Verwirrung über die gelernten Kategorien »gut«, »böse«, »rechts«, »links« ist auch deshalb so vollständig, weil sich ohne den psychologischen Mechanismus der Abspaltung kaum verstehen lässt, warum die Vertreter einer »Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie« heutzutage als Verfechter einer neuen Weltordnung auftreten, die ebenso kulturmarxistische wie globalkapitalistische Züge trägt. Im Schlusskapitel wird noch deutlich, dass sich das politische Koordinatensystem des 20. Jahrhunderts komplett ad absurdum führt. Auf globaler Ebene gibt das WEF, die Vertretung der mächtigsten kapitalistischen Konsortien der Welt, sozialistische Leitideale heraus. Höchste supranationale Organisationen wie WHO, IWF und UN werden von ehemaligen Kommunisten geleitet. Werbe- oder Hedgefonds-Manager aus Hamburg Eppendorf oder dem Prenzlauer Berg beklagen sich allabendlich bei einer guten Flasche Primitivo über den globalen Kapitalismus. Auf jeden Fall will man heute zweierlei: gut und solidarisch sein und Kohle machen. Die moralische Vertretung für möglichst exotische Minderheiten kollidiert dabei kaum mit dem eigenen Lebensstil. Fair Trade, Mülltrennung, Windstromanbieter, Hybridauto und Bioprodukte als mannigfaltiger Ablasshandel tun ihr Übriges, um kognitive Dissonanzen zu befrieden. Um das ehemalige marxistische Mündel, den einfachen Arbeiter, kümmert man sich hingegen kaum; diese Gruppe wird inzwischen eher von rechts bedient. Der linke Rotweinschwadroneur verweigert die Anerkennung seiner realen politischen Macht allein schon deshalb, weil er damit Zielkonflikten und Verantwortung ausweicht. Anstatt sich den Niederungen einer Realpolitik zu stellen, genießt er den Schutz aller staatlichen und medialen Macht, wenn er sich als Freiheitskämpfer für eine schöne neue Welt geriert.

      Um das Bild des »linken Spießers« von Jan Freyn aufzugreifen: Wikipedia bescheinigt Spießbürgern »geistige Unbeweglichkeit und ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen«. Dies bedeutet, dass aus einem linken Spießer jederzeit ein rechter Spießer werden kann. Den politischen Spin erhält der Spießbürger über die jeweils herrschende Medienhegemonie. Spießer und Spindoctoren bilden in jedem totalitären System eine Einheit: Eine kleine Gruppe ideologischer Vordenker erlangt mediale und politische Macht – die wesentlich größere Gruppe der Konformisten folgt.

       »Ich glaube, bei der Betrachtung des Nationalsozialismus und der DDR kommt die individuelle Beteiligung zu kurz. Solche Systeme sind nicht nur denkbar durch eine auffällige, pathologische Elite, sondern nur durch ein stützendes Mitläufersystem. Ich verwende dafür den Begriff der Normopathie und meine, dass etwas Gestörtes für normal gehalten wird, wenn eine Mehrheit diese Meinung vertritt. Das hat etwas mit dem menschlichen Grundbedürfnis zu tun, zu einer Gruppe dazuzugehören. So entsteht die Gefahr, dass man auch einer kollektiv falschen Meinung anhängt. Das kennen wir aus dem Nationalsozialismus und aus dem DDR-Sozialismus. Ich erkenne das auch in dieser aus meiner Sicht narzisstischen Gesellschaft.« 9

      Sofern das System, aus welchem Grund auch immer, seinen Spin ändert, folgen die Spießbürger nach; in diesem Fall nennt man sie Wendehälse. Ein Spießer fällt immer auf die Füße und ist immer auf der Höhe seiner Zeit. Ohne Mühe weiß er, was gerade gut und was böse ist. Sein Bezugspunkt ist die veröffentlichte Meinung; sein Wunsch, dazuzugehören, schließt eine kritische Haltung, die mit einer tieferen Medienkompetenz einhergehen würde, automatisch aus. Dem guten Bürger reichen die Tagesschau und das heute-journal, um zu wissen, was der »Anstand« gebietet. Dem medialen Aufruf, »Haltung« und »Gesicht« zu zeigen, folgt der Spießer gern, was unter Corona natürlich bedeutet, das Selbige zu verhüllen.

      Wenn ich bei meinen Lesungen auf den Zusammenhang des deutschen transgenerationalen Kriegstraumas und den Übersteuerungen auf den Politikfeldern Corona, Gender, Klimaschutz und Migration hinweise, werde ich regelmäßig mit folgender Frage konfrontiert:

      »Glauben Sie wirklich, dass ausgerechnet die Weitergabe des Kriegstraumas ursächlich für die aktuellen Verwerfungen ist? Schließlich gibt es viele westliche Nationen, auch jene, die selbst kaum Kriegsschäden erlitten haben, die von politischer Korrektheit und Schuldnarrativen beherrscht werden.«

      Manchmal ist es dann etwas mühsam, darauf hinzuweisen, dass mir die Thesen, die den Niedergang westlicher Gesellschaften erklären wollen, durchaus vertraut sind. Tatsächlich halte ich sie sogar für überaus relevant. Natürlich ist das Problem der Selbstablehnung westlicher Gesellschaften universeller und komplexer. Autoren wie Douglas Murray, Matthias Matussek, Alexander Grau, Roger Scruton und andere äußern zu Recht den Verdacht, dass die größten zeitgenössischen Verwerfungen im direkten Zusammenhang mit der Säkularisierung stehen. Der Aufbau einer Ersatzmoral jenseits von Religion, die Dekonstruktion fester Institutionen, Rollen- und Leitbilder und vor allem der Verlust transpersonaler Sinngewissheiten sind wesentliche Faktoren für das Entstehen eines spirituellen Surrogates: die Hypermoral. Und damit auch für die unverhohlene Renaissance neomarxistischer Politikansätze, getarnt als Gender-, Migrations- und Klimaprogramme. Für Deutschlands Besonderheit werden außerdem der Dreißigjährige Krieg, die späte Nationalstaatlichkeit, die europäische Mittellage und die Epoche der deutschen Romantik diskutiert. All dem stimme ich ausdrücklich zu. Die Selbstzerstörung der westlichen Gesellschaften im Allgemeinen und der deutschen Gesellschaft im Besonderen ist multifaktoriell bedingt, und mein Ansatz, das Transtrauma, stellt lediglich einen weiteren Debattenbeitrag dar. Dennoch halte ich den Mechanismus für wichtig, weil er die spezifisch deutsche Übersteuerung aus einem weiteren Blickwinkel beleuchtet.

      Linke Spießer, Konformisten, Wiedergutmacher, Normopathen, Mitläufer, Puritaner, Narzissten, Jakobiner, Pharisäer, autoritäre Charaktere … Wie auch immer man die total guten Menschen der Neuzeit nennen möchte – in der politisch-medialen Klasse Deutschlands sind sie tonangebend.

       »Mit einer simplen Fünf-vor-zwölf-Rhetorik will die politisch-mediale Elite in allen Lebensbereichen einen radikalen Wandel herbeiführen – mit dem Versprechen, dass man Deutschland bald nicht wiedererkennen wird. Man denke nur an die Energiepolitik ohne Atom und Kohle, die Auflösung der nationalstaatlichen Souveränität in Europa, die

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