Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader

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Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader

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       Die unglaubliche Geschichte

       eines jungen Mannes

       von edlem Mut

      Es war im Mai des Jahres 1848. Noch durchbebten die Schwingungen der Märzrevolution die Länder und rüttelten gewaltig an den Staatsgebäuden, in deren Schoß die Freiheiten der Völker gefesselt lagen. Furcht und Besorgnis für die Zukunft füllten die Brust der bisher vom Glück Gesegneten; Freude und Hoffnung aber zogen in die Gemüter derer, die durch den eisernen Zwang der Verhältnisse vom Glück geschieden und nur willenlose Werkzeuge derselben waren.

      In den Straßen der großen und prächtigen Residenz, wo vor wenigen Monaten das blutige Banner des Aufruhrs geflattert hatte, war es lebendiger denn je; der gesunkene Handel und Verkehr begann sich von Neuem tatkräftig zu heben; frei durften sich die Gedanken zu Worten gestalten, und wie von einem drückenden Alb befreit, jubelte alles der jungen Freiheit entgegen, von der man sich Glück und Heil für alle Zeiten versprach. In den Räumen, wo sonst mit eiserner Strenge Gesetze diktiert wurden, tagten jetzt die Vertreter des Volkes, die der Monarch, den vorgeschrittenen Geist seiner Länder erkennend, berufen hatte, eine freie, den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Verfassung zu beraten.

      Ein enges Gässchen der äußeren Vorstadt schien von der allgemeinen Regung ausgeschlossen zu sein; nur wenige Menschen, ärmlich gekleidet, sah man darin umhergehen; die halb geöffneten Türen der drei und vier Stock hohen alten Holzgebäude, von ihren Besitzern zum Zwecke der Spekulation eingerichtet, ließen in finstere, kellerähnliche Räume blicken und verschlangen die Eintretenden wie ein schwarzes Grab. In den unteren Regionen dieser winkligen Straße milderte kein Lüftchen die zur Hitze gesteigerte Wärme des heiteren Maitages; als ob auch die Schönheiten des jungen Jahres keinen Zutritt zu dem Aufenthalt der Armut haben sollten, wehte hier eine schwüle, drückende Luft, die durch den Qualm, der hier und da aus einer Tür oder einem Fenster quoll, fast unerträglich wurde. Nur bleichen Gesichtern begegnete man, denen Not und Elend ihren Stempel aufgedrückt hatten.

      Wir treten ein in einen dieser schwarzen Schlünde. Eine kalte, dumpfe Kellerluft wird nach einigen Schritten fühlbar; rechts und links berührt die tappende Hand feuchte, schmutzige Wände, der Fuß strauchelt auf dem schlecht gepflasterten Boden und nur mit größter Vorsicht gelangt man nach einigen Minuten an eine steile Treppe, die sich durch ein altes, gebrechliches Geländer in der Finsternis bemerkbar macht. Wirft man nun einen Blick zurück, so zeigt sich der Eingang wie ein kleines, rundes Kerkerfenster, das matt von der scheidenden Abendsonne beschienen wird. Es gehört mehr als Überwindung dazu, den Weg fortzusetzen. Nachdem man zwölf bis fünfzehn Stufen in stockfinsterer Nacht erstiegen hat, gelangt man in eine Art Vorsaal, der durch eine kleine Öffnung in der Mauer nur so schwach erhellt ist, dass man die Fortsetzung der Treppe kaum erkennen kann. Wir ersteigen auch diese, eine dritte und vierte und treten dann auf einen kleinen Boden, der durch ein Dachfenster völlig erhellt wird. Der Treppe gegenüber befindet sich eine kleine Tür, etwas weiter rechts eine zweite. Neben dieser öffnet sich der rußige Eingang einer kleinen Küche, aus deren schwarzem Innern man einige auf dem Herd glimmende Kohlen gewahrt. Alles ist still, kein Geräusch, das die Bewohner dieses Raumes ankündigt, lässt sich vernehmen.

      Öffnen wir die erste Tür; ein Schlüssel befindet sich in dem Schloss derselben.

      Ein kleines, armseliges Stübchen nimmt den Eintretenden auf. Das niedrige Dachfenster ist geöffnet und gestattet der in dieser Höhe reinen Morgenluft freien Eingang. Eine Monatsrose, auf dem schmalen Fensterbrett aufgestellt, wird leicht von dem Luftzug bewegt und ein Strauß Veilchen, der in einem mit Wasser gefüllten Becher daneben steht, verbreitet einen lieblichen Geruch. Ein reinliches Bett, drei Stühle und ein Tisch, der so neben dem Fenster aufgestellt ist, dass er das volle Licht empfängt, bilden das ganze Mobiliar. Das Dachstübchen ist sauber ausgefegt, der Staub von dem kleinen Blechofen und den harten Holzstühlen sorgfältig entfernt, kurz, alles deutet an, dass hier am frühen Morgen eine sorgliche Hand gewaltet hatte.

      Wer ist der Bewohner?, wird der Leser fragen.

      Der Bewohner sitzt am Tisch und schreibt. Er ist ein Greis, dessen kahler, glänzender Scheitel nur noch von einem Kranz schneeweißer Locken umgeben ist, der mit zitternder Hand die Feder auf dem Papier führt und in großen Buchstaben seine Gedanken verkörpert. Das Alter scheint weniger den Geist als den Körper desselben geschwächt zu haben, denn man sieht ihm deutlich an, wie nur die bebende Hand und nicht der zögernde Erguss seiner Gedanken die Langsamkeit der Arbeit herbeiführt. Auch nicht einen Augenblick rastet die Feder, emsig fährt sie knirschend über das dicke, gelbe Papier, das in ganzen Bogen vor ihm auf dem Tisch liegt.

      Die Glocke der nahen Pfarrkirche verkündete die zehnte Morgenstunde; hell erklangen die Töne zu dem kleinen Fenster herein. Der Greis legte die Feder nieder, schob das beschriebene Papier sorgfältig zusammen und verschloss es in dem Kasten seines Arbeitstisches. Den Schlüssel verbarg er in einer Seitentasche seines langen grauen Rockes; dann erhob er sich und durchmaß in kurzen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, sein Zimmer. Öfter blieb er am Fenster stehen und gab sein bleiches, von einem langen, weißen Bart umflossenes Gesicht der frischen Morgenluft preis.

      Es mochten wohl zehn Minuten vergangen sein, als die Promenade durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Der Greis blieb in der Mitte des Zimmers stehen und rief mit zitternder Stimme: »Herein!« Die Tür öffnete sich und eine Frau trat ein.

      »Wohin, Frau Bertram?«, sprach der alte Mann erstaunt. »Sie haben sich ja herausgeputzt, als ob Sie einen Ball besuchen wollten?«

      Und mit Recht konnte der Anblick dieser Frau Erstaunen erregen. Sie mochte schon einige Jahre über die Vierzig hinaus sein, aber noch war ihr bleiches Gesicht schön zu nennen. Ein großes blaues Augenpaar, von feinen schwarzen Wimpern umgeben und starken geschweiften Brauen beschattet, bildete einen schönen Kontrast zu den langen schwarzen Haaren, die, fantastisch geordnet und mit großen, künstlichen Blumen geschmückt, das Haupt umwallten. Ein weißes, etwas schmutziges und altmodisches Kleid, hier und da mit bunten Schleifen geschmückt, umfloss die schlanken, aber abgemagerten Glieder, und ein bunter, ebenfalls veralteter Fächer vollendete das Bizarre ihrer Erscheinung. Der seltsame und unheimliche Glanz, der aus den Augen strömte, gab indes Aufschluss über die arme Frau; er zeigte deutlich an, dass sie eine von jenen unglücklichen Geschöpfen war, denen der Schöpfer den Gebrauch ihres Verstandes versagt hatte. Es gab jedoch auch lichte Augenblicke in dem Leben dieser Armen, und jeder, der sie dann kennenlernte, wurde doppelt mit Schmerz und Jammer erfüllt, wenn er sie wieder in diesem trostlosen Zustand erblickte.

      »O ja, Herr Wilibald, ich gehe auf einen Ball«, entgegnete die Frau, indem sie vor den kleinen Spiegel trat, der die Wand des Zimmers schmückte, und sich selbstgefällig betrachtete. Ein Lächeln umspielte dabei den Mund der armen Frau, das den Greis mit Entsetzen erfüllte.

      »Liebe Frau«, fuhr der Greis fort, als ob er zu einem Kind spräche, das man durch freundliches Zureden von einem gefassten Vorsatz abzulenken gedenkt, »liebe Frau, es ist noch nicht Mittag, und Sie wollen schon auf einen Ball gehen? Bleiben Sie zu Hause, bis es Zeit dazu ist.«

      »Ich muss früh dort sein«, sprach Frau Bertram, »denn auch er wird früh kommen! Wissen Sie, dass ich mich recht freue, den schönen Mann in seiner glänzenden Uniform zu sehen? Er war lange, lange fort – doch heute kommt er auf den Ball. O ich habe schon oft mit ihm getanzt!«

      »Soll ich denn allein bleiben, liebe Nachbarin? Wer wird mir zu Hilfe kommen, wenn ich wieder krank werde? Warten Sie doch nur, bis Ihr Sohn Richard zurückkehrt.«

      Der Ausdruck des Gesichts der armen Wahnsinnigen änderte sich bei diesen Worten;

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