YOLO. Paul Sanker

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YOLO - Paul Sanker

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Betrieb. Darunter war dilettantisch mit schwarzem Marker ein erigierter Penis gekritzelt.

      Henrik fluchte unterdrückt. Schweren Herzens nahm er den mühsamen Aufstieg durch das verdreckte und übel riechende Treppenhaus in Angriff. Spätestens ab der sechsten Etage machten sich die zwei bis drei Pizzen pro Woche zu viel und die fehlende sportliche Betätigung unangenehm bemerkbar. Nach einem guten Dutzend weiterer deftiger Verwünschungen und fünf oder sechs Verschnaufpausen war Henrik endlich vor Tobis Wohnungstür angekommen. Völlig außer Atem drückte er auf die Klingel neben dem Namensschild Krüger.

      Kurz darauf riss Tobi die Tür auf. »Ey, Alter! Da bist du ja endlich! Was ist los? Siehst gar nicht gut aus, Kumpel. Kriegst du’n Herzanfall oder so was?«

      Doch ehe Henrik in der Lage war zu antworten, zog Tobi ihn in die Wohnung und redete munter weiter drauflos. »Na, komm schon, wir schieben uns gerade ein paar Burger rein.«

      Im Wohnzimmer saßen Tobis Eltern auf der Couch vorm Fernseher und starrten gebannt auf die Wiederholung einer Talkshowsendung. Thema: Ich brauche jeden Tag Sex.

      Vier gepiercte Jugendliche im Alter zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren saßen im Studio und übertrafen sich gegenseitig darin, sich auf üble Weise zu beschimpfen und Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Eine zwanzigjährige fette Schlampe mit rot gefärbter Irokesenfrisur, weißem, durchsichtigem T-Shirt, unter dem die hüpfenden Fleischmassen ohne Büstenhalter wogten und wabbelten, machte sich über ihren Freund lustig, der neben ihr saß, und zwar darüber, wie wenig Standfestigkeit sein kleiner Ständer während ihrer letzten Liebesnacht bewiesen hatte.

      Der bekannte Moderator Hugo Egon Pocher – nach hinten gekämmtes, gegeltes blondes Haar – grinste wie immer dreckig und machte anzügliche Bemerkungen in Richtung Publikum.

      Karl Krüger, Tobis Vater, starrte mit der Bierflasche in der Hand auf den Bildschirm. Amüsiert kichernd kratzte er sich im Schritt seiner Trainingshose, während er fasziniert die Vorgänge auf der Mattscheibe beobachtete.

      Henrik schickte ein kurzes Hallo in die Richtung der Couch. Der achtundvierzigjährige Hartz-IV-Empfänger grunzte eine Erwiderung, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und rülpste vernehmlich. Frau Krüger nickte Henrik nur geistesabwesend zu, stieß ihren Mann an und rief: »Na, guck dir nur mal das dicke Mädchen an! Die isst bestimmt zu viel fettes Zeug.« Darauf widmete sie sich genüsslich schmatzend ihrem Hamburger.

      Nachdem Tobi sich noch schnell zwei Cheeseburger aus der offenen Tüte gesichert hatte, verschwand er mit Henrik in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab.

      Die beiden setzten sich auf die alte, abgewetzte Schlafcouch unterm Fenster. Tobi machte es sich bequem, indem er seine ausgestreckten Füße auf dem Sessel neben der Couch ablegte. Während sie aßen, besprachen sie ihre weiteren Pläne.

      »Frank erwartet uns gegen zwei im Molocco«, sagte Tobi. »Was willst du denn unternehmen, wenn du erfahren hast, was du wissen willst?«

      »Was ich unternehmen werde?« Henrik fletschte die Zähne, obwohl er kaute, sodass er kleine Hackfleischbröckchen auf den Teppich spuckte. »Ich werde eine Strategie entwickeln, wie ich bei unserem Gildentreffen an den Schattenmagier her-ankommen kann. Und wenn es sein muss, prügele ich die Informationen aus diesem Lord Dragon und seiner Schmeißfliege Tulsadoom heraus.« Sein Gesicht verfärbte sich rot, weil bereits wieder Wut in ihm hochstieg.

      »Das wird gar nicht einfach sein, Alter«, nuschelte Tobi, die Backen vollgestopft wie ein Hamster. »Der wird ständig von seiner Gilde bewacht. An den kommst du so leicht nicht ran.«

      »Mir wird schon was einfallen«, zischte Henrik böse, als säße Lord Dragon bereits neben ihm.

      Tobi winkte beschwichtigend ab. »Ist ja gut, Kumpel. Ich denke, dass wir uns auf den Weg machen sollten, Frank erwartet uns.«

      Sie traten wieder ins Wohnzimmer. Tobis Eltern saßen immer noch vor dem Fernseher. Mittlerweile hatte die nächste Talkshow begonnen. Thema: Hilfe, ich glaube, mein Vater ist schwul!

      Kurz vor zwei Uhr kamen die beiden Freunde im Molocco an, das um diese Zeit geschlossen war.

      Frank genoss das Privileg, kostenlos in einem Hinterzimmer des Etablissements zu wohnen. Noch völlig verschlafen öffnete er dem Bruder und Henrik gähnend die Tür und winkte die beiden herein. Sie folgten ihm an die Bar. Dort mixte sich Tobis Bruder einen Gin-Tonic, kippte ihn in einem Zug in sich hinein, wischte sich mit der Hand den Mund ab und seufzte: »Leute! Bin ich kaputt! Das war mal wieder ‘ne lange Nacht.«

      Die schwarzen Haarsträhnen hingen Frank wirr im Gesicht. Mit verquollenen Augenlidern schaute er seine bislang stummen Besucher an. »Also, was wollt ihr Komiker von mir? Ich habe nicht viel Zeit.«

      Sie setzten sich an einen Tisch neben dem Eingang. Frank holte ein Päckchen Tabak aus der Gesäßtasche seiner schwarzen Jeans und drehte sich eine Zigarette. Henrik fiel auf, dass Tobis Bruder seinen auffälligen Silberring mit der Schlange heute nicht am Finger trug. Geringschätzig zog er den linken Mundwinkel herunter: Das war eh alles nur Großmannsgehabe! Was hatte dieser Penner schon Wichtiges zu tun, außer Kotze vom Vortag aus den Klos zu wischen? Aber er würde sich hüten, solche Gedanken Frank gegenüber laut zu äußern, denn er hatte miterlebt, wie dieser eines Abends einem randalierenden Gast mit der Faust das Nasenbein gebrochen hatte. Im Zusammenhang damit fiel Henrik sein eigenes schmerzliches Prügelerlebnis wieder ein.

      »Wir machen’s kurz«, sagte er. »Kennst du drei Kerle, so zwischen zwanzig und achtundzwanzig Jahren alt? Widerliche Gothics, die häufiger im Molocco rumhängen? Einer von den Typen hat ein Tattoo am Unterarm mit dem Schriftzug For Tulsadoom in love oder so ähnlich.«

      Die Augen des Barkeepers blitzten wachsam auf. Er fixierte Henrik, dem sofort ein unbehagliches Gefühl aus dem Bauch aufstieg. »Warum willst du das wissen?« fragte er leise und lauernd.

      Henrik schluckte. »Na, eigentlich nur so. Oder vielmehr … ich wollte …« Er geriet ins Stottern und setzte neu an. »Ich hab vor einigen Tagen im KoF mit ein paar Gamern gechattet. Einer von denen nannte sich Tulsadoom und wollte mit uns durch eine Quest ziehen. Weil ich dann nichts mehr von ihm hörte, dachte ich, dass dieser Grufti mit dem Tattoo ihn vielleicht kennt.«

      Henrik hatte versucht, harmlos zu klingen und Frank in die Augen zu schauen, doch schon bald musste er den Blick senken und betrachtete nun verlegen seine lange nicht geschnittenen, unsauberen Fingernägel.

      Frank grinste herablassend.

      Tobi scharrte unter dem Tisch unruhig mit den Füßen und zupfte nervös an seinem Nasenpiercing.

      Henrik wagte kaum, zu atmen. Er erwartete, dass Frank sie beide kurzerhand aus der Bar werfen werde.

      Doch zu seiner Überraschung sagte der Barkeeper mit ruhiger Stimme: »Ja, ich kenne den Kerl mit dem Tattoo. Er nennt sich Leslie und trifft sich regelmäßig mit sechs bis acht weiteren KoF-Spielern zu einer LAN-Party hier im Molocco. Sie gehören alle derselben Gilde an.«

      »Der Gilde der ehrwürdigen Schlangenmutter!«, platzte Tobi heraus. Henrik hätte ihn erwürgen können, weil er befürchtete, dass Frank misstrauisch wurde und nicht mehr weiterredete.

      Doch Tobis Bruder nickte zustimmend. »Genau die meine ich. Der Boss der Gilde nennt sich Lord Dragon.«

      Tobi setzte erneut zu einer Bemerkung an. Diesmal schnellte Henriks Arm wie der Leib einer

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