Opfer Patient. Dieter Wissgott

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Opfer Patient - Dieter Wissgott

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Oberlandesgericht Celle hat in seinem Spezialsenat für Arzthaftpflichtsachen die Erfahrung sammeln müssen, dass Mediziner die Fehler, die in ihrem Fachgebiet anzutreffen sind, in Publikationen offener und objektiver beschreiben als in gutachterlichen Äußerungen, die sie im Haftungsprozess gegen ihre Standesgenossen abgeben und in denen sie sich nicht selten von kollegialer Rücksichtnahme leiten lassen.«

      Man sollte dem Patienten also die Möglichkeit geben, die Zweitmeinung eines anderen Sachverständigen einzuholen. Das ist momentan nur unter fast unerfüllbaren Voraussetzungen zu erreichen – nur dann nämlich, wenn das Gericht das erstattete Gutachten für ungenügend erachtet. Um ein variables und wissenschaftlich ausgereiftes Gutachten zu gewährleisten, müssen sich medizinische Sachverständige zu Lehrmeinungen und deren Grenzen erklären und diese kontrovers diskutieren.

      Schließlich ist auch die Höhe der zuerkannten Schmerzensgelder zu überdenken. Das Schmerzensgeld wird nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch als »billige Entschädigung in Geld« verstanden. Es soll »alle Umstände berücksichtigen, die dem Schadensfall sein Gepräge geben«. Zuletzt wurde es am 6. Juli 1955 höchstrichterlich vom Bundesgerichtshof bestätigt, ist also inzwischen 57 Jahre alt. Es geht aber nicht an, für den Verlust eines Auges 25.000 Euro zuzubilligen oder die Amputation eines Oberschenkels mit 40.000 Euro zu bewerten, wenn der Fürstin von Monaco weitaus höhere Beträge für mediale Indiskretionen zuerkannt oder – wie kürzlich geschehen – einem Kindsmörder eine Entschädigung von 3.000 Euro zugebilligt wird, weil ihm während laufender Ermittlungen zehn Minuten lang eine menschenrechtswidrige Behandlung angedroht wurde, um sein Opfer zu retten.

      Natürlich müssen keine amerikanischen Verhältnisse in die Rechtsprechung Einzug halten. Die Gerichte setzen sich aber zu wenig mit dem Ausmaß des Verlusts an Lebensqualität auseinander – wobei man auch vielen Anwälten empfehlen muss, diese Umstände detaillierter vorzutragen.

      Medizinisch und juristisch greifen der Arztfehler und der anschließende Prozess tief in das Leben der Betroffenen ein. Ärzte und Juristen sind bei der Bewältigung dieser Beeinträchtigungen zu humanem und sozialem Engagement aufgerufen. Ebenso verdienen vorsichtige Überlegungen des Gesetzgebers Unterstützung, die zusätzliche Entschädigungen für nahe Angehörige empfehlen. Die Angehörigen sind von den teils gravierenden und dauerhaften Folgen eines Arztfehlers in gleicher Weise betroffen wie der Patient selbst.

      Vielleicht setzt die Veröffentlichung dieser Fallsammlung eine Diskussion in Gang, die nicht nur für die Patienten, sondern auch für beide beteiligte Berufsgruppen von Nutzen sein kann. Vielleicht sieht sich dann auch der Gesetzgeber dazu veranlasst, nach dem Vorbild des Sozialgesetzbuchs ein »Medizingesetzbuch« zu konzipieren, das den berechtigten Interessen der geschädigten Patienten Rechnung trägt. Dazu gehört auch eine Neugestaltung der Prozessvorschriften.

      Das neue Patientenrechtegesetz ist nur ein bescheidener Anfang auf diesem Weg. Es tut im Grunde nicht mehr, als die gefestigte Rechtsprechung teilweise zu kodifizieren.

      Die ausgewählte Fallsammlung stellt einen repräsentativen Querschnitt aus dem Alltag eines Medizinrechtlers dar. Es versteht sich, dass die Namen der beteiligten Ärzte, Gerichte und Geschädigten abgekürzt und anonymisiert wurden. Zum Nachweis der Authentizität kann auf Verlangen das jeweilige Aktenzeichen der Gerichte angegeben werden. Hier kann jeder bei berechtigtem Interesse Einsicht in die Gerichtsakten beantragen und sich über Einzelheiten informieren.

Diagnosefehler

      Die Ferndiagnose

      Der kaufmännische Angestellte Fritz W. war viele Jahre lang an verantwortlicher Stelle im Verkauf einer Sanitär- und Heizungsfirma im Raum Hannover tätig. Ein anhaltendes Wirbelsäulenleiden zwang ihn mit 48 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand.

      Seit Weihnachten 1992 litt Fritz W. an einem grippalen Infekt. In der Nacht vor Silvester weckte er gegen zwei Uhr morgens seine Ehefrau, die sich noch sehr genau an die nun folgenden Ereignisse erinnert. Er berichtete ihr von massiver Atemnot. Fritz W. war aufgestanden und hatte sich als eine Art Selbsthilfemaßnahme mit ausgestreckten Armen an die Wand des Schlafzimmers gestellt. Seine Frau sah, wie er nach Luft rang. Sie fragte, ob sie nicht den Hausarzt anrufen solle. Fritz W. lehnte zunächst ab und verlangte nach ihren Asthmatabletten (die Ehefrau litt unter Asthma bronchiale). Sie gab ihm die Tabletten, rief aber trotzdem den Hausarzt an. Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, dass sich Dr. E. in Urlaub befand. Gleichzeitig wurde auf dem Band der ortsansässige Dr. St. als Bereitschaftsarzt genannt.

      Gegen 2.15 Uhr rief Frau W. diesen Arzt an und schilderte ihm den Zustand des Ehemanns. Sie bat ihn um einen Hausbesuch, weil er unter akuter Atemnot litt und sie Angst habe, er könne ersticken. »Nun mal langsam«, erwiderte Dr. St., »so schnell erstickt man nicht.« Ein Hausbesuch sei wohl nicht erforderlich. Herr W. solle sich auf die Arme aufstützen und langsam tief durchatmen.

      »Mein Mann hat das schon gemacht. Wir kennen diese Übung, weil ich selbst unter Asthma bronchiale leide. Trotzdem ist es nicht besser geworden.«

      Fritz W. war auf den Flur gegangen und hatte sich auf das Treppengeländer gestützt, wobei er weiter nach Luft rang. Auch das berichtete Frau W. dem Arzt. Er bat sie, den Puls fühlen. Sie versuchte es, erklärte aber dann, sie könne nichts feststellen, vielleicht auch wegen der Anspannung. Dr. St. bat sie, den Herzschlag zu fühlen und ihm zu berichten, ob das Herz auffallend schnell schlägt. Frau W. berichtete, sie sei sich nicht sicher: »Manchmal fühle ich den Herzschlag und manchmal nicht. Ich weiß auch nicht.«

      Dr. St. fragte, welche ihrer eigenen Medikamente sie dem Ehemann schon gegeben habe. Er war mit der Antwort zufrieden. »Nun warten Sie mal ab. Schließlich müssen die Medikamente erst einmal wirken. Rufen Sie mich in einer Stunde wieder an.« Frau W. insistierte. Sie habe ihrem Mann auch einen Stoß Aerosol Allergospasmol (Medikament gegen Asthma bronchiale) verabreicht, ohne dass sich eine Besserung eingestellt habe.

      Dr. St. ließ sich nicht erweichen. Sie solle die Wirkung der Tabletten abwarten.

      Man muss an dieser Stelle einfügen, dass der Wohnort des Patienten von der Praxis des Bereitschaftsarztes drei Kilometer entfernt war. Dr. St. hätte binnen weniger Minuten eintreffen können.

      Wichtig ist auch, dass Dr. St. die Eheleute W. nicht kannte. Er war nicht ihr Hausarzt. Trotzdem hat er keine Fragen nach etwaigen Vorerkrankungen oder Vorbefunden gestellt.

      Gegen drei Uhr rief Frau W. erneut an, weil sich der Zustand des Ehemanns nach ihrem Eindruck verschlechtert hatte. Er rang immer stärker nach Luft, was sie dem Arzt eindringlich schilderte, mit der erneuten Bitte um den bislang abgelehnten Hausbesuch. Dr. St. erklärte, sie solle den Patienten ins Auto setzen und in seine Praxis bringen.

      Frau W. versuchte es. Sie bat den Ehemann, langsam die Treppen hinunterzugehen bis zur Garage. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. »Es geht nicht mehr«, keuchte er. »Ich kriege keine Luft. Siehst Du das nicht? Ich kann gar nicht mehr gehen!« Fritz W. lehnte sich mehrfach mit erhobenen Armen an den Wänden im Treppenflur an und rang laut röchelnd nach Luft.

      Frau W. rannte zum Telefon. Sie flehte den Bereitschaftsarzt regelrecht an, sofort zu kommen, ihr Ehemann würde ersticken. Als der Arzt den Besuch zum dritten Mal ablehnte, schrie sie ihn an: »Was sind Sie denn für ein Arzt? Wer hat Sie denn zum Bereitschaftsdienst eingeteilt? Wenn Sie nicht kommen, geben Sie mir doch das Rote Kreuz, oder ich rufe die Polizei!«

      Frau W. war zum damaligen Zeitpunkt Chefsekretärin des Sparkassendirektors, also an beherzte Auftritte gewöhnt. Dr. St. blieb hart. Er wies die lästige Anruferin mit dem Hinweis zurecht, dass er bei dem telefonisch geschilderten Befund vermutlich eine Infusion verabreichen müsse. Das ginge nur in seinen Praxisräumen. Frau W. solle notfalls ein

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