Opfer Patient. Dieter Wissgott
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Opfer Patient - Dieter Wissgott страница 6
Ein daraufhin – nach Anwaltswechsel – erstattetes Gutachten eines renommierten Kardiochirurgen aus der Schweiz ergab, dass der Tod nicht auf eine Aortendissektion, sondern auf einen Riss des Aneurysmas zurückzuführen war. Für die Früherkennung des Aneurysmas hatte die unterlassene Thorax-Röntgen-Aufnahme entscheidende Bedeutung: Auf dem Röntgenbild wäre das Aneurysma leicht zu erkennen gewesen. Der Patient hätte noch in der Nacht im Deutschen Herzzentrum operiert werden können.
Robert H. hätte also den Kollaps am Pfingstmontagabend 2003 überlebt, wenn der auf der Intensivstation tätige Arzt das kleine Einmaleins der Auswertung des ihm präsentierten klinischen Bilds beachtet und eine Thorax-Röntgen-Aufnahme angeordnet hätte. In dem Gutachten des schweizerischen Herzchirurgen heißt es:
»Eine Thorax-Röntgen-Aufnahme wäre obligat gewesen, weil sie mit Sicherheit entweder ein CT [Computertomogramm] oder eine Echokardiographie nach sich gezogen hätte. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch der entscheidende Unterschied zwischen einer akuten Aortendissektion und einem chronischen lange bestehenden Aneurysma ins Spiel gekommen. Die hier riesige, chronische Aufweitung der aufsteigenden Hauptschlagader hätte man im Standardbild aber mit Sicherheit nicht übersehen können. Ohnehin hätte man schon aufgrund der klinischen Präsentation des Patienten, d. h. aufgrund seiner Symptome an eine CT und/oder Echokardiographie denken müssen, die dann zweifelsfrei zur richtigen Diagnose geführt hätte.«
Immerhin hat sich der zunächst eingeschaltete pensionierte Sachverständige in der Hauptverhandlung diesem Votum angeschlossen und sein Erstgutachten korrigiert. Aber man bedenke: Hätte die Witwe nicht die Obduktion durchgesetzt und wäre nicht ein zweiter Gutachter hinzugezogen worden, dann hätten ihr und ihren vier kleinen Kindern keine Schadensersatzansprüche gegen das Krankenhaus zugestanden.
»Es kam mir gar nicht darauf an, mit der Obduktion die Voraussetzung für spätere Schadensersatzansprüche zu schaffen«, erklärte Frau H. »Das war mir in diesem Augenblick egal. Ich konnte nur absolut nicht begreifen, dass mein kerngesunder Mann urplötzlich sterben musste, ohne dass man eine Ursache kannte, die man nachvollziehen konnte. Ich wollte unbedingt Klarheit schaffen, und zwar für mich und für meine Kinder. Ich gebe zu, dass mir auch der Aufnahmearzt zu gleichgültig erschien. Ich konnte das nicht hinnehmen. So einfach konnte mein Mann von seiner Familie und dieser Welt nicht verabschiedet werden.«
Das Strafverfahren gegen den Intensivmediziner wurde nach einer Hauptverhandlung von drei Tagen eingestellt gegen die Auflage, 6.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen und alle Verfahrenskosten zu übernehmen. Die Hinterbliebenen haben diesem Prozedere auf Anraten ihres Anwalts erst dann zugestimmt, als die hinter dem Arzt und dem Klinikum stehende Haftpflichtversicherung sich während des Strafprozesses schriftlich und rechtsverbindlich dazu verpflichtet hatte, Schadensersatzansprüche für Witwe und Kinder in fast voller Höhe anzuerkennen.
Um eine geringe Mithaftung wurde hart gerungen. Die Gegenseite hatte argumentiert, dass eine Verlegung von Robert H. ins Deutsche Herzzentrum während der Nacht ein nicht ausschließbares zusätzliches Risiko dargestellt hätte, so dass eventuell schon auf dem Transport oder unmittelbar danach ein kompletter Riss des Aneurysmas hätte eintreten können. Reanimationsmaßnahmen wären dann möglicherweise hoffnungslos gewesen.
Die Witwe hat diesen Kompromiss letztlich akzeptiert. Ein Abstrich von etwa fünfzehn Prozent der Gesamtansprüche war hinnehmbar, weil ihr damit ein vermutlich jahrelanger Zivilprozess erspart blieb. »Auf das Geld kam es mir letztlich nicht an, auch wenn ich mir vor allem während der Nacht den Kopf darüber zerbrach, wie ich meine Kinder durch die Schule und später vielleicht auch durch ein Studium bringen konnte.«
Zur Auszahlung gelangte schließlich im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigung von 310.000 Euro. Damit war die Existenzgrundlage von Mutter und Kindern wenigstens für die nächste Zukunft gesichert.
Noch zwei kurze Anmerkungen zu diesem Fall.
Die Hinterbliebenen konnten ihre Schadensersatzansprüche nur durchsetzen, weil eine Obduktion mit exakter Eingrenzung der Todesursache durchgeführt wurde. In Deutschland wird viel zu wenig obduziert. Andere Länder sind uns da weit voraus, wobei rechtspolitische Forderungen darauf konzentriert sind, Verbrechenstatbestände aufzudecken. Auch Hinterbliebene sollten aber eine Obduktion in Erwägung ziehen, wenn der Verdacht eines Arztfehlers aufkommt. Ohne Obduktion gibt es kaum strafrechtlich oder zivilrechtlich verwertbare Erkenntnisse.
An die Klinikleitungen ergeht die Mahnung, an Sonn- und Feiertagen keine unerfahrenen Therapeuten einzuteilen, zumindest nicht ohne Aufsicht. Bei den zahlreichen Arzthaftpflichtschäden verschiedener Kliniken fällt häufig auf, dass an solchen Tagen Kapazitätsengpässe entstehen. Das mag mit dem Wirtschaftlichkeitsdenken der Verwaltungen zusammenhängen, vielleicht auch mit einem gesteigerten Freizeitbedürfnis von Ärzten und Pflegepersonal. Offenbar gehört der hochrangige Grundsatz »Das Wohl des Kranken ist oberstes Gesetz« der Vergangenheit an.
Der nicht erkannte Herzinfarkt
Auch das nachfolgende Schicksal der Patientin Elisabeth T. ist symptomatisch für die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen.
Elisabeth T. wohnt in einer Kleinstadt mit knapp 17.000 Einwohnern. Hier sind 38 Ärzte verschiedener Fachrichtungen zugelassen, etwa genauso viele in den umliegenden Ortschaften. Außerdem gibt es ein Kreiskrankenhaus. Man sollte meinen, dass die Kreisstadt damit über eine ausreichende medizinische Versorgung verfügt.
Das gilt leider nicht für die Wochenenden und die erwähnten Sonn- und Feiertage. Auch am Mittwochnachmittag und an allen übrigen Tagen von sechs Uhr abends bis sieben Uhr früh haben alle Arztpraxen geschlossen. Die medizinische Versorgung wird dann einem Notdienst übertragen, der sich überregional organisiert hat. Das hat zur Folge, dass Ärzte aus der Landeshauptstadt oder aus anderen Ortschaften für die Betreuung zuständig werden, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind und nicht immer die nötige Erfahrung, vielleicht auch Einsatzbereitschaft mitbringen.
An eine solche Notärztin aus der Landeshauptstadt geriet am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2005 die 66-jährige Elisabeth T. Sie litt seit den Morgenstunden an Unwohlsein mit stärker werdenden Schmerzen im Oberbauch, verbunden mit gefühlter Abgeschlagenheit, Mattigkeit und Kaltschweißigkeit. Hinzu kam eine bis dahin unbekannte Atemnot. Sie ging zum ärztlichen Notdienst, der an diesem Tag von Dr. Karin S. ausgeübt wurde.
Die Ärztin stellte sich weder mit Namen vor, noch gab sie zu erkennen, welcher Fachrichtung sie angehört. Sie hinterließ auch keine Anschrift, sodass keine gezielte Auskunft über sie eingeholt werden konnte. Den Dienst übte sie in den Räumen einer früheren Schule aus, in denen keinerlei Grundausstattung an apparativer und instrumenteller Versorgung wie EKG, Ultraschallgerät oder ähnlichem zur Verfügung stand.
Elisabeth T. schilderte der Notärztin die Symptome. Dr. S. tastete ihre Bauchgegend ab. Sie habe vermutlich eine Magenschleimhautentzündung, erklärte sie, offenbar habe sie an den Weihnachtsfeiertagen zu viel gegessen. Sie stellte ihr ein Rezept für Tabletten aus. Die Untersuchung dauerte keine fünf Minuten.
Der Ehemann holte die verschriebenen Tabletten aus der Apotheke, die an diesem Feiertag den Notdienst versah. Die Patientin nahm die Tabletten der Verordnung gemäß ein. Eine Besserung verspürte sie nicht. Sie sah aber am nächsten Tag keine Veranlassung, zu ihrem Hausarzt zu gehen. Die Notärztin hatte ihr ja mitgeteilt, sie müsse nur die Tabletten regelmäßig einnehmen, dann werde es ihr schon besser gehen.
Als