Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Graphologie. Schriften 1 - Ulrich Sonnemann страница 3
Mir war es möglich, etliche Personen für eine Diagnose an Ulrich Sonnemann zu verweisen, und immer gelang es ihm, in Auswertung der Handschriften aufsehenerregend genaue Personencharakterisierungen und im übrigen einschneidende Befunde zu liefern, derer die Schreiber nicht gewärtig gewesen waren. Einer der Fälle, die mir im Gedächtnis geblieben sind, war der eines Installateurs, der Hilfe suchte, weil er mit einem Male zu einem ängstlichen und deprimierten Menschen geworden war. Ohne über den Schreiber mehr zu wissen als wie alt, welchen Geschlechts und ob er Rechts- oder Linkshänder war, sagte Sonnemann, es treibe ihn eine große Sorge um seine, wörtlich, »interne Installation« um – was später als Störung im Magen-Darm-Trakt verifiziert wurde. Eine andere Handschriftenprobe identifizierte er zutreffend als die eines Architekten, der zwischen der Architektur und dem Wunsch nach einer Musikerlaufbahn hin- und hergerissen war. Überdies lehrte er mich, den Schriftzügen Hautstörungen abzulesen, wie sie sich in Form von Ausschlägen bemerkbar machten, bei Klienten, die buchstäblich zu dünnhäutig waren und übersensibel reagierten auf die Schwingungen der Personen in ihrer Umgebung. Einer derjenigen, die ich an Sonnemann für eine Handschriftenanalyse vermittelte, ein Unternehmensanwalt, war von den Ergebnissen derart beeindruckt, daß er, mit Sonnemann als Direktor, ein Graphologie-Institut errichten wollte, damit sich die Handschriftenanalyse in unserem Lande endlich weiter verbreiten könnte. Das Projekt gedieh immerhin bis zur Registrierung des Namens, unter dem das Institut an die Öffentlichkeit treten wollte, beim Staate New York, das war es dann aber auch schon.
Übrigens war Sonnemanns in seiner amerikanischen Zeit geschriebenes Buch ›Handwriting Analysis‹ der Basistext unseres Kursus. Der amerikanischen Leserschaft geradezu entgegen kam Sonnemanns Art zu schreiben nicht, sodaß sich das Buch, trotz seiner mehreren Auflagen, allemal nicht weit genug verbreitete. Traurigerweise steht man in den Vereinigten Staaten der Handschriftenanalyse nach wie vor mit großer Skepsis gegenüber. Die meisten Psychologen betrachten sie abschätzig als Gesellschaftsspiel oder als projektive Technik ohne sonderlichen Wert. Sie tun gerade so, als hätte sich das jemand aus den Fingern gesogen, daß in der Handschrift als einer Ausdrucksbewegung der Person deren ganze Fülle eben zum Ausdruck kommt im Augenblick des Schreibens. Die meisten unserer grundlegenden Psychologielehrbücher halten es schlicht für nicht angebracht, die Handschriftenanalyse in ihre Darstellung projektiver Techniken oder diagnostischer Hilfsmittel einzubeziehen. Die den klinischen Tests gewidmeten Lehrbücher ignorieren oder verwerfen die Handschrift gleicherweise. Graphologie wird genauso behandelt wie alles andere mit paranormalen Erfahrungen in Zusammenhang Stehende – man betrachtet sie als ein Phänomen, das im Umkreis wissenschaftlichen Arbeitens nichts zu suchen hat. Und so bleibt das Schreiben über Graphologie – unwert einer jeglichen akademischen Bemühung – denen überlassen, welche die bunten Seiten der Tagespresse beliefern.
Einiges kommt da zusammen bei dieser Blindheit seitens der amerikanischen Psychologen. Unberücksichtigt blieb bereits, daß, mit Sonnemann zu sprechen, die Aufmerksamkeit am Offensichtlichen immer schon vorbeischweift: so selbstverständlich, wie wir den Boden nehmen, auf dem wir stehen, interessiert uns an den Schriftzügen zuerst und zuletzt der mitgeteilte Inhalt, kaum aber die Person, die sich in ihnen offenbart. Unglücklicherweise waren die bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung der Handschrift angewandten Methoden alles andere als wissenschaftlich. Immer – Sonnemann wurde nicht müde darauf hinzuweisen – müssen Untersuchung und Gegenstand aufeinander bezogen sein, nie darf sich die Untersuchung, wie in der Handschriftenforschung geschehen, von der in diesem Sinne wissenschaftlichen Methode entfernen. Die Handschrift aber, die ihre Bedeutung dann am besten zu erkennen gibt, wenn sie als Ganzes in den Blick genommen wird, zerfiel in ihre Bestandteile; soll heißen: die »Zeichen«-Methode wurde über die Handschriftenanalyse verhängt – man nahm t-Striche, i-Punkte, Neigung, Größe und derlei mehr unter die Lupe, ließ den Zusammenhang unter den Tisch fallen und die Zeichen damit bedeutungslos werden. So wenig ein »Aussenden und Empfangen« von Gedanken und Bildern in künstlich erzeugter Laborsituation mit spontaner telepathischer Erfahrung zu vergleichen ist, so untauglich ist der Versuch, bestimmte Zeichen in der Handschrift zu Persönlichkeitszügen in Beziehung zu setzen, gemessen am Vertiefen in die Person als ganzer, wie sie eine jede Handschriftenprobe uns vor Augen stellt. Wir sollten, Sonnemann folgend, »die Phänomene selber zum Sprechen bringen«, statt sie in bedeutungsleere Fragmente zu zersplittern. Im Namen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit rückte die Psychologie in den Vereinigten Staaten irrationalerweise von menschlichen Erfahrungen ab, bloß weil sie ihr unbegreiflich waren.
Leider konnte Ulrich Sonnemann seine schier unheimliche Fähigkeit niemandem vererben, was womöglich auch der Schreibweise seines Buches geschuldet ist, gewiß aber und zuerst unserem Mangel an der in seiner Person lebendigen bemerkenswerten Einfühlsamkeit in die Nuancen der Schreibspur.
Miriam Ehrenberg New York, im Februar 2004
Aus dem Englischen von Paul Fiebig
Erste Abteilung: Graphologie
Handschriftenanalyse
im Dienste der Psychodiagnostik
Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie
Aus dem Englischen von Claus-Volker Klenke
I. Einleitung
Wesen und Absicht der Graphologie.
Geschichte und Grundannahmen
Daß etwas so »Persönliches« wie die Handschrift uns etwas über den Charakter, das Temperament und die geistige Verfassung einer Person sagen kann, ist eine simple und beinahe selbstverständliche Erwartung. Schon lange, bevor eine irgend systematische Erforschung der Handschriftenpsychologie aufgenommen wurde, war sensiblen Beobachtern des menschlichen Verhaltens, unabhängig voneinander, aufgefallen, daß die Handschrift verschiedener Personen dauerhaft und unausweichlich ein Kennzeichen von deren Individualität darstellt. Das wirft eine interessante Frage auf. Gewiß verzeichnen wir gegenwärtig in diesem Lande unter professionellen Psychologen ein wiedererwachendes Interesse an dem, was sich psychologisch durch die Handschrift mitteilt, warum aber erhielt sie, zumindest in Amerika (die Entwicklung in Europa nahm einen ganz anderen Verlauf), nicht schon lange vor unserer Zeit den ihr angemessenen Platz in der Persönlichkeitsforschung? Warum blieb zu einer Zeit, als in Europa für Psychologiestudenten das Studium von Klages’ grundlegenden Büchern zu diesem Gegenstand verpflichtend geworden war, die Handschriftenanalyse hierzulande fast ausschließlich den »Quacksalbern« überlassen – um von diesen dann je nach Absicht und Verständnis zurechtgemodelt zu werden? Lassen Sie uns diese Fragen an geeigneter Stelle wieder aufnehmen, nachdem wir zuvor erkundet haben, was Handschriftenanalyse ist und will und welche Vor- und Grundannahmen ihrem so kniffelig verästelten Apparat zugrunde liegen.
Aus dem Blickwinkel der psychologischen Forschung bietet die Handschrift sich für zwei verschiedene, scharf zu trennende Ziele an. Das eine ist ihre Verwendung zu psychodiagnostischen Zwecken, das andere die zu Zwecken der Identifikation. Auch wenn es sich vom Material her in einigen Untersuchungsbereichen mit unserem Gegenstand überschneidet, fällt das letztgenannte Ziel nicht in den Rahmen dieser Studie, die sich auf die Graphologie im eigentlichen Sinne, nämlich die psychologische Handschriftenanalyse zum Zwecke der Erforschung und Beschreibung der Persönlichkeit beschränkt.
Gegenwärtig kann man bei den Graphologen, je nach ihren Denk- und Herangehensweisen bei der Verfolgung ihrer dergestalt definierten Zielsetzung, drei Gruppen unterscheiden.
Die eine unternimmt einen bloß intuitiven und impressionistischen