Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann

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Graphologie. Schriften 1 - Ulrich Sonnemann

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sich selbst mit deren Urheber zu identifizieren und dadurch Einsicht in dessen Charakter zu gewinnen. Zwar erweist sich die in solch einem Verfahren implizierte Haltung einer wachsamen und doch unvoreingenommenen Aufmerksamkeit für Gesamteigenschaften des visuellen Musters als unabdingbar für einen graphologischen Erfolg mit gleich welcher Methode, doch ist der rein intuitive Zugang, da er keinerlei systematische Kontrollen einschließt, subjektivistisch bis hin zu möglicher Willkür; zumindest also ist er unzuverlässig.

      Ein zweiter, in jüngerer Zeit aufgekommener Ansatz stützt sich in starkem Maße auf die statistische Methode, nicht als ein Hilfsmittel für die endgültige Validierung der graphologischen Persönlichkeitsbilder, sondern als einen am Aufbau des grapho-analytischen Systems selbst mitwirkenden Faktor. Das Konzept der Korrelationen zwischen bestimmten psychologischen Trends und Zügen der Handschrift wird, zwecks Überprüfung, einer statistischen Analyse des gehäuften Auftretens quantitativer Verstärkungen und Verminderungen solcher Züge unterzogen, und die Ergebnisse vergleicht man dann mit auf die fragliche Gruppe zutreffenden sozialen, psychologischen und klinischen Indikatoren. Dieser Ansatz wurde bisher selten praktisch angewandt. Aus Gründen, die im methodologischen Teil dieser Studie diskutiert werden, dürfte er kaum adäquater sein als der erstgenannte.

      Die dritte Methode – die, die wir hier entwickeln werden – ist die Frucht vieler Jahrzehnte systematischer Untersuchung der Handschriftenanalyse, die in Europa von Ludwig Klages und einigen seiner Schüler sowie unmittelbareren Vorläufern betrieben wurde. Diese vom graphologischen Dilettantismus vor ihrer Zeit so klar unterschiedene Untersuchung gründete auf einer Erforschung der Ausdrucksbewegungen im allgemeinen. Was sind Ausdrucksbewegungen? Um die Leistungen von Klages zu erfassen, müssen wir einen ersten Blick auf diesen äußerst grundlegenden und entscheidenden Begriff werfen.

      In einem weiter gefaßten Sinne können alle von einem beliebigen Organismus wann und wo immer ausgeführten Bewegungen aus dem einfachen Grund solche des Ausdrucks genannt werden, daß die jeweilige Art und Weise ihrer Ausführung, auch wenn der Zweck und die äußeren Umstände der Bewegung »konstant« sind, nicht nur von individuellem Organismus zu individuellem Organismus, sondern auch innerhalb des Rahmens der Aktivität eines einzelnen Organismus’ von einem Auftreten der Bewegung zum anderen variiert. Da seitens eines Organismus’ biologisch keine mathematisch genaue automatische Wiederholung ein- und derselben Bewegung möglich ist, kann das Element der Einzigartigkeit in jeder Bewegung weder ihrem Zweck noch ihren äußeren Umständen, sondern nur einem strukturellen Prinzip innerhalb des Organismus, das in genau dieser Einzigartigkeit sich ausdrückt, zugeschrieben werden. Insoweit die Bewegungen eines Organismus im Vergleich zu denen eines anderen allesamt einzigartig sind – insoweit sie durch Analogien struktureller Merkmale verbunden sind –, spiegelt diese globale Einzigartigkeit ihrerseits die Individualität des Organismus als ganzem wider; insofern die Bewegungen des Organismus sich voneinander unterscheiden, spiegelt die Einzigartigkeit einer jeden von ihnen den je besonderen Zustand des Organismus innerhalb des gesamten zeitlichen Spielraums seiner Individualität wider. Je bestimmter dieser temporale Zustand, d. h. je ausgeprägter die Ausdruckskraft der Bewegung ist, desto leichter wird sie von anderen, die sie beobachten, verstanden werden: Der mimische Ausdruck des Schreckens z. B. vermittelt die Erfahrung des Schreckens mit solcher Überzeugungskraft, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, was er meint. Diese Überzeugungskraft kann nicht aus vorausgehenden Erfahrungen seitens des Beobachters mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens erklärt werden, da aus dem Axiom der Einzigartigkeit jeder Ausdrucksbewegung folgt, daß solche vorausgehenden Erfahrungen streng genommen nicht stattgefunden haben können; Assoziationen seitens des Beobachters mit vorausgehenden Erfahrungen mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens können somit nur nachträglich, aufgrund einer Ähnlichkeit, gemacht werden; Ähnlichkeiten wiederum können erst gesehen werden, nachdem zuvor die ähnlichen Dinge »gesehen«, d. h. in ihrer Ganzheit und Einzigartigkeit erfahren worden sind, ohne welche es folglich keine Basis für spontane Assoziationen mit vorausgehenden Erfahrungen geben kann.

      Daraus ergibt sich die Annahme, daß das Element der Ausdruckskraft, d. h. der Bedeutung, in organismischen Bewegungen einen zentralen vereinheitlichenden Faktor darstellt, der die Bewegung als das Ganze, welches vom Beobachter erfahren wird, »organisiert«, und daß der Beobachter zu dieser Erfahrung dadurch befähigt wird, daß es in ihm ein zentrales vereinheitlichendes Prinzip gibt, das potentiell mit demjenigen – zu ihm »isomorphen« – korrespondiert, das die Bewegung organisiert. Diese Annahme, einer der grundlegenden Lehrsätze der Gestaltpsychologie, liegt gleichermaßen der in diesem Buch vorgestellten graphologischen Methode wie der Theorie der Ausdrucksbewegungen überhaupt zugrunde. Das Beispiel, das gewählt wurde, um sie zu illustrieren, war absichtlich ein ziemlich plattes: Der Gesichtsausdruck des Schreckens ist etwas, dessen Sinn jedermann im Alltag versteht, ohne dazu Ausdrucksbewegungen studiert haben zu müssen. Die Bedeutung einer bestimmten individuellen »Geste« in der Handschrift einer Person zu verstehen gehört zu genau der gleichen Art von Erfahrungen wie das angeführte Beispiel. Der Unterschied zwischen ihnen ist ein gradueller, kein prinzipieller: Um graphische Bewegung psychologisch einschätzen zu können, bedarf es eines höheren Grades an Sensibilität für visuelle Muster, als wir sie im Alltagsleben brauchen. Das zweite Erfordernis – die Notwendigkeit geordneten Denkens, um die gemachten Beobachtungen zu organisieren und sie mit größtmöglichem Gewinn zu verwenden – unterscheidet die Graphologie nicht von anderen wissenschaftlichen Unternehmungen.

      Auch wenn die wissenschaftliche Graphologie ihre Existenz ohne Frage Klages verdankt, so ist er doch selbst einer Reihe von Vorgängern verpflichtet, die um nahezu fünfzig Jahre ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Abgesehen von vereinzelten Andeutungen wie spontanen Beschreibungen von Handschriften zur Charakterisierung einer bestimmten Persönlichkeit, die sich durch alle Jahrhunderte und Nationalliteraturen verstreut finden, entstand die Graphologie als systematische Forschungsrichtung, als Jean-Hippolyte Michon 1875 sein ›Système de Graphologie‹ veröffentlichte, das Ergebnis einer jahrzehntelangen vergleichenden Forschung, die auf Briefen, die Michon erhalten hatte, und auf seiner Bekanntschaft mit den Briefschreibern beruhte.

      Was Michon – und nach ihm sein systematischer arbeitender, aber weniger talentierter Schüler Jules Crépieux-Jamin – begründeten, war die sogenannte Graphologie der Zeichen, die nach der Zeit dieser beiden Franzosen zu jener Art Graphologie degenerierte, wie sie noch heute von vielen Amateuren und Scharlatanen in diesem Bereich praktiziert wird, obwohl man auch sagen könnte, daß der typische amateurhafte Ansatz gegenwärtig eher noch eine inkonsistente Vermischung der »Graphologie der Zeichen« mit dem in diesem Kapitel beschriebenen völlig unsystematischen Zugriff auf die Handschrift geworden zu sein scheint. Für Michon repräsentieren bestimmte isolierte Haken, Schleifen, Überschneidungen usw. bestimmte Charaktereigenschaften, und der Charakter selbst galt ihm als die Summe dieser Eigenschaften. Dank seiner bemerkenswerten persönlichen Beobachtungs- und Kombinationskraft sind Michons Entdeckungen keineswegs unterzubewerten, sein »système« aber erwies sich, nachdem es ihm einmal aus den Händen genommen war, als dermaßen inadäquat, daß es jenes allgemeine Urteil hervorrief, das die psychologische Untersuchung der Handschrift als zwangsläufig unwissenschaftlich abwertete – eine Ansicht, die sich in diesem Land im Grundsatz bis heute erhalten hat. Ihre wesentlich frühere Überwindung in Europa verdankte sich sowohl der enormen Verfeinerungs- und Systematisierungsarbeit, die die führenden Experten in diesem Feld vollbracht hatten, als auch den neuen Denkschulen, die in Europa etwa zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine führende Rolle in der akademischen Psychologie selbst erlangten.

      Von Michons Entdeckungen angeregt, fand diese Entwicklung in erster Linie in Deutschland statt, wo Wilhelm Langenbruch, Hans H. Busse, Albrecht Erlenmeyer und Wilhelm Preyer zu ihren einflußreichsten Beförderern wurden. Preyers ›Psychologie des Schreibens‹ von 1895 stellte, seinem Titel zum Trotz, noch keinen Fortschritt der psychologischen Begriffe dar, unternahm aber zum ersten Mal eine methodische Analyse der Eigenschaften und Bestandteile der graphischen Bewegung. Von da an und angeregt durch graphologische Periodika, die in Deutschland gegründet wurden, beschleunigte sich die Entwicklung. Georg Meyers ›Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie‹, wie die meisten hier genannten Werke nie ins Englische übersetzt, war die erste Annäherung an die Handschriftenanalyse

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