Silbergrau mit Wellengang. Andrea Reichart
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„Alexanders eigenmächtige Entscheidung heute Nacht hat Konsequenzen“, sagte sie ernst und sah erst in die Runde, ehe ihr Blick tadelnd an mir hängenblieb. „Wie ihr wisst, hatten wir einen ausgesprochen engen Zeitplan einzuhalten, wenn wir den Verkäufer der Finca noch treffen wollten, ehe der für eine unbestimmte Zeit geschäftlich ins Ausland musste, wie er sagte.“
Während alle nickten, ärgerte ich mich. DAS wäre ja mal eine Information gewesen, die für mich als Fahrer wichtig gewesen wäre, oder?
„Es wurde ja schon knapp durch den Zwischenfall mit Rolf“, fuhr Lisbeth ungerührt fort und Rolf hob sofort an, sich zu entschuldigen.
Kopfschüttelnd schnitt Lisbeth ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Niemand macht dir Vorwürfe, Rolf, wir waren trotzdem noch in der Zeit. Ich hatte ja etwas mehr eingeplant – für alle Fälle.“
Damit lag der schwarze Peter wieder bei mir.
Lisbeth hob ihr Handy hoch. „Heute Morgen erreichte mich die SMS, dass Senhor Cardez nicht mehr länger warten könne. Er hat den Schlüssel hinten auf der Terrasse der Finca unter einem Stein deponiert. Wir können also jederzeit rein. Leider kann er uns nicht mehr mit den technischen Feinheiten vor Ort vertraut machen, aber das schaffen wir ja wohl selbst, was meint ihr?“ Sie schaute Beifall heischend in die Runde und wahrhaftig, ihre Freunde klatschten.
Ich fasste es nicht.
„Das Schöne ist jetzt, dass wir uns Zeit lassen können, auch wenn das unsere finanzielle Planung ein wenig durcheinanderwerfen könnte.“
Ich runzelte die Stirn. Wie knapp hatten die fünf Musketiere denn kalkuliert?
„Nun“, ignorierte Lisbeth mein Mienenspiel und das Gemurmel ihrer Freunde, „wir werden das Beste daraus machen.“ Sie nickte ihren Freunden aufmunternd zu. „Wir werden in Spanien in aller Ruhe den Jakobsweg entlangfahren. Die spirituelle Atmosphäre von Verzicht und Selbstbesinnung wird uns allen gut tun. Auch dir, Alexander“, schloss sie mit einem kühlen Seitenblick auf mich.
„Moment mal!“, wandte ich energisch ein. „Als ich diese Busreise gebucht habe“, ich konnte es mir nicht verkneifen, das Wort Busreise mit einem bitteren Unterton zu belegen, „da war nie die Rede davon gewesen, dass sie mehr als einen Tag und eine Nacht dauern würde.“ Die gute Stimmung nach der nächtlichen Fußmassage war verflogen, das hier konnte doch wohl nicht wahr sein!
„Wir sind Montagmittag losgefahren, jetzt ist Dienstagmorgen. Ich muss Mittwoch um elf Uhr auf einer Urnenbestattung in Faro sein und danach geht mein Flieger nach Irland. Es kommt gar nicht infrage, dass ich mit euch eine Woche lang durch Spanien bummele, auf den Spuren von Hape Kerkeling.“ Ich blickte in die Runde. „Wer außer Rolf will also den Bus fahren, wenn ich mich gleich in den nächsten Zug setze?“
Schorschi fuhr sich mit seinen knotigen alten Fingern nervös durch das schüttere Haar. „Ich schaffe das nicht, ehrlich nicht. Außerdem habe noch nie ein Gespann mit Anhänger gefahren. Und …“ Er sah betreten auf seinen Teller.
„Und was?“, fragte ich ungeduldig.
„Ich habe keinen Führerschein mehr“, murmelte er. „Schon seit Jahren nicht.“ Er hob den Kopf und sah mich beinahe trotzig an. „Damals habe ich noch gesoffen, aber das ist Jahre her! Ich hätte ihn auch wiederhaben können, ganz bestimmt sogar, aber meine Frau sagte, das sollte ich lieber lassen, ich wäre eh nie ein guter Fahrer gewesen. Und dann ist sie gestorben und die eine Hälfte der Rente war weg und jetzt bin ich über siebzig und …“ Seine Stimme versickerte zu einem Flüstern.
„Ich könnte es versuchen“, warf Bea ein. „Wir hatten früher einen Wohnwagen, mein Mann und ich. Ich weiß, wie man mit Anhänger fährt.“
Rolf lachte auf. „Du, Bea? Du kotzt doch schon, wenn wir an einer grünen Ampel losfahren. Wie willst du denn die restlichen zwölfhundert Kilometer schaffen? Also ehrlich!“
Erschrocken sah Bea Lisbeth an. „Wirklich? Noch zwölfhundert Kilometer?“
„Wenn wir den direkten Weg nehmen, ja“, sagte sie. „Wenn wir an der Atlantikküste entlangfahren und den Jakobsweg nehmen, dann wirds mehr.“
„Wo sind wir überhaupt?“, fragte Sonja.
Lisbeth zuckte die Schultern. „Irgendwo zwischen Bordeaux und Bayonne, schätze ich. Oder, Alexander?“
„In der Nähe von Bayonne“, erwiderte ich und wunderte mich, dass die anderen den Atlantik nicht rochen. Ich hatte ihn schon in der Nase, seit ich die Augen aufgeschlagen hatte.
Während sie über meine Nachfolge hinterm Steuer diskutierten, ließ ich mir endlich das Frühstück schmecken. Als sie sich alle gegenseitig so demoralisiert hatten, dass selbst die unerschütterliche Sonja jeden Moment vor Verzweiflung in Tränen auszubrechen drohte, war ich mit dem Essen fertig. Ich klopfte nun meinerseits mit einer Gabel gegen meine Tasse.
„Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte ich, als sich alle Blicke mir zugewandt hatten und das Murmeln verstummt war. „Ich fühle mich zwar ein wenig komisch, so, als würde ich eine Erkältung ausbrüten, aber das wird sicher nicht so schlimm. Ich fahre euch zunächst bis Santiago de Compostela. Das dürften so etwa siebenhundert Kilometer sein. Da rennt ihr dann alle ein bisschen im Kreis herum und betet und danach fahren wir weiter, die Nacht durch nach Faro. Dort setze ich euch an der Finca ab, ihr leiht mir den Bus, damit ich zu der Beerdigung komme, und ich bringe ihn euch ein oder zwei Tage später wieder vorbei. Was haltet ihr davon?“
Die Art, wie Lisbeth mich ansah, schickte mir eine Gänsehaut über die Arme. So hatte mich meine Grundschullehrerin angesehen, als ich in der zweiten Klasse eine ungewöhnlich schwere Matheaufgabe im Handumdrehen gelöst hatte. Wie Fräulein Sachse damals schien Lisbeth jetzt zu überlegen, ob ich gerade pfuschte oder wirklich so schlau war.
Ich konnte nicht anders, ich streckte ihr grinsend die Zunge raus.
Schmunzelnd nahm ich das leichte Aufblitzen in ihren Augen und das kaum wahrnehmbare Zucken ihrer Mundwinkel zur Kenntnis.
* * *
Als wir zu Ende gefrühstückt hatten und uns kurz darauf alle mit unserem Gepäck am Bus trafen, brach die Sonne durch die morgendliche Wolkendecke. Es würde ein wunderbarer Sommertag werden, warm aber nicht zu heiß.
Ich half, die Taschen wieder im Anhänger zu verstauen, und bat meine Fahrgäste, in den Bus einzusteigen.
„Finger an die Nasen“, rief ich, und als alle grinsend ihre Nasen berührten, hämmerte ich mit einem energischen Ruck die störrische Seitentür ins Schloss. Ein kritischer Blick auf den Schleichplatten hinten links am Hänger ließ mich allerdings seufzen.
Lisbeths Blick war meinem gefolgt. „Keine Sorge, der Wirt sagte, die nächste Tankstelle sei direkt da vorne um die Ecke.“
„Gut“, nickte ich, „in die Richtung gehts auch zur Grenze.“
„Ja“, sagte sie leise, als hätte sie plötzlich doch Angst vor dem, was vor ihr lag.
Kapitel 4
Santiago de Compostela glich einem Irrenhaus.