Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug

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sind zu verallgemeinern; Bruchstellen und immanente Widersprüche müssen immer wieder genutzt werden.« Kampf notwendig. Aber »Alternativ-Denken nach dem Prinzip: Konflikt oder Kooperation ist Unfug.« Doch keine Partnerschaft möglich, wegen ungleicher Macht.

      Allgemeinere Gründe für die Fehlentwicklung: »Die Arbeiterbewegung war mit Vorrang auf die Macht im Staat und in der Wirtschaft fixiert.« Zitiert Rosa Luxemburg, sehr schön (406), benennt »bürokratische und zentralistische Wurzeln« und die »Dominanz des Repräsentations- und Stellvertreter-Systems« (407): »Die Versuchung ist immer wieder groß, sein Amt für die Kollegen einzusetzen, für sie zu handeln und zu verhandeln – in bester Absicht, versteht sich –, nicht jedoch mit ihnen zu handeln und zu kämpfen.« (Ebd.) Er denkt die Kritik an der Neuen Heimat parallel zur Kritik am »Realsozialismus«. – Dann plötzlich Gramsci! »Proletkult und Intellektuellenvorbehalte haben eine lange Tradition, auch bei uns. Dabei wissen wir spätestens seit Gramsci, dass nicht allein der starke Arm des Arbeiters, sondern ebenso die öffentliche Meinung, die kulturelle Hegemonie über die eigene Durchsetzungskraft entscheiden.« (410)

      25. Juni 1990

      Gründungskongress der KP Russlands. – Ihr neuer 1. Sekretär, Iwan Kusmitsch Poloskow (Jg. 1935), ein Agrarexperte, bekräftigte den ML, unklar, ob nur formelhaft oder trotzig restaurativ. Ähnlich wie Ligatschow sagt er von sich, er habe die Perestrojka von Anfang an unterstützt. Ruft nun zur Einheit der Partei und bietet Jelzin Zusammenarbeit an. Ausdifferenzierung. Neues Spiel der Kräfte. Hauptsache, sie machen sich nicht verrückt.

      Gorbatschow, der nach der russischen Eigengründung einer zunehmend entkernten Kommunistischen Partei der Sowjetunion vorsitzt, beantwortete zum Abschluss des Gründungsparteitags schriftlich eingereichte Fragen. »Die sozialistische Idee und die kommunistische Perspektive« hätten noch ein »langes Leben« vor sich, sagte er. In der gegenwärtigen »Umschichtung der politischen Kräfte« müsse er das Amt des Generalsekretärs und das des Staatspräsidenten noch zusammenhalten. Poloskow unterstützte ihn darin, da die Macht des Staatspräsidenten noch nicht voll zum Tragen komme und die Macht der Partei nicht einfach abgebaut werden könne. Indem er zugleich eine stärkere Einbeziehung der Partei in den Entscheidungsprozess forderte, schien er aber eine bereits vollzogene Machtverschiebung zum Präsidentenamt wieder zurücknehmen zu wollen.

      Eine blinde Dialektik waltet hier: Der Hegemon Russland meldet sich zur Überraschung aller Randvölker, die sich durch ihn unterdrückt wähnen, aus der Vorherrschaftsrolle ab, und nun schlägt die Ablösung der Randrepubliken um in die des »Zentrums«. Während der eine Pol des politischen Kräftebogens die russische Regierungsmacht erobert, gewinnt der Gegenpol die Parteiführung.

      Die Verwandlung der Union in eine Konföderation verlangte einen Starken Mann; dessen Stärke müsste, um Erfolg im Sinne der Perestrojka zu haben, seine eigne Schwächung bewirken.

      26. Juni 1990

      Gorbatschow auf der russischen Parteikonferenz am 19.6.: »In diesen etwas mehr als 1500 Tagen haben wir eine weitreichende Wende in einem Riesenland vollzogen, die mit den größten und schärfsten revolutionären Wenden in der Weltgeschichte vergleichbar ist«. Die einen sehen darin »Möglichkeiten zur Humanisierung«, die anderen »einen Zusammenbruch, einen totalen Zerfall, eine wahre Apokalypse«. Jetzt gelte es, eine Art »Risikoraum« zu durchqueren, »da neue Mechanismen der Perestrojka noch nicht in Gang kamen, während die alten schon beinahe abgeschaltet sind«. Höchste »sozio-ökonomische Labilität« und Versagen der Perestrojka »in einigen Richtungen« bestimmen die Lage. Gegen die »populistische Taktik«, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen, beschwört Gorbatschow die Einheit »aller vernünftig denkenden patriotischen Kräfte des Volkes«.

      Der Übergang zur Marktwirtschaft müsse »ohne Beeinträchtigung des Lebensniveaus der Bevölkerung« bewerkstelligt werden. Doch das ist lange vorher schon zur Illusion geworden, der schöne Schatten, den er auf sein eignes Projekt wirft. Auch wehrt er sich dagegen, den Übergang als Rückkehr zum Kapitalismus aufzufassen. Zur Staatsaufgaben in einer sozialistischen Marktwirtschaft erklärt er u.a. den Schutz des Rechts auf Arbeit, des Lebensniveaus und der Ökologie, sowie Aufrechterhaltung und Entwicklung der Infrastruktur.

      Der auf dem Märzplenum des ZK beschlossenen (zugestandenen?) Konferenz waren heftige Auseinandersetzungen zur Frage »Muss die KP Russlands sein oder nicht« vorausgegangen. Nun versucht Gorbatschow zu vermeiden, dass Russland und die Sowjetunion gegeneinander ausgespielt werden – auf Staats- wie Parteiebene. »Russland, auf dessen Territorium sich die ganze Struktur der zentralisierten staatlichen Landesleitung herausgebildet hat, verschmolz gleichsam mit der Unionsstruktur in Wirtschaft und Leitung.« Jetzt sei »die Frage nach einer neuen Rolle der KPdSU und ihrer radikalen Erneuerung in aller Schärfe aufgeworfen«. – Jedenfalls nur mehr eine Rolle neben anderen und in einem viel größeren Stück.

      29. Juni 1990

      Was jetzt auf die DDR zukommt, ist keine Vereinigung, sondern eine Okkupation, schreibt André Brie (»Staatsstreich«, in: Sozialismus 6/90). Der Staatsvertrag ein Staatsstreich, weil er ohne Verfassungsprozeduren die Verfassung außer Kraft setzte. »Die BRD sonnt sich im Schatten des Scheiterns der DDR.« Künftig entfällt die Systemkonkurrenz als Ansporn für sozialintegrative Zugeständnisse. Was die internationalen Kräfteverschiebungen zwischen Ost und West angeht, so fühlt Jochen Willerding, der die Kommission für internationale Politik beim PV der PDS leitet, sich an München 1938 erinnert. Deutsches Vormachtstreben, wie oft schon Kriegsursache, wieder am Ball. Jupp Schleifstein beschwört die sozialistische Linke, organisatorische Initiative zu ergreifen, damit die PDS einen westlichen Partner erhält.

      Der Kurs der DM steigt. Die USA erhöhen, allen Wahlversprechen ihres Präsidenten zuwider, die Steuern. Ihr Defizit in den letzten Monaten übertrifft alles Bisherige. Das Kapital kann nun aber woanders hin und »will« das anscheinend auch. Karl Georg Zinn meint, die bundesdeutschen Arbeiter hätten durch zu niedrige Löhne (sinkende Lohnquote) den Konsum des US-Mittelstands und den US-Staatshaushalt subventioniert (ebd.).

      Hansgeorg Conert sieht im Machtverlust der KPdSU, der weit mehr als nur ein Autoritätsverlust sei, die »bemerkenswerteste« Veränderung in der gegenwärtigen SU. Er bringt Beispiele von durch Demonstrationen erzwungenen Rücktritten von Parteisekretären. Das könnte natürlich auch Zeichen für eine Demokratisierung sein. Das Politbüro und das ZK hätten bereits ihre gesamtstaatlichen Entscheidungsfunktionen eingebüßt. – Für die sozialdemokratische Tendenz Schatalin in den Präsidialrat berufen. Zerfall der staatstragenden Identifikation in der RSFSR. Die Soziologin Nazimowa, die bei den Bergarbeiterstreiks in Westsibirien war, fand die KPdSU bei den streikenden Arbeitern völlig abgemeldet. In der Wirtschaftspolitik hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass »direkte Erzeuger-Abnehmer-Beziehungen unerlässlich« sind. Rückfall in regionale oder lokale Tauschwirtschaft? Gefragt sind Instrumente der Prozessregulierung.

      Conert hält den Niedergang der KPdSU für unaufhaltsam, die Kommunisten werden Minderheiten auf allen möglichen Sowjet-Ebenen. Er rechnet mit Enttäuschung an derzeitigen Publikumshelden wie Jelzin und endlich mit »Unregierbarkeit«. Dies sein letztes Wort.

      *

      Steffen Lehndorff zu Besuch. Erzählt vom Parteiaustritt Schleifsteins. Ich kann es nicht glauben. Bedenken gegen die umstandslose Bildung einer Linken Liste mit der PDS, weil dann der Wahlkampf sofort wieder alle Energien von der Neubesinnung abzieht.

      30. Juni 1990

      Heinz Jung am Telefon: Er sei vollkommen abgerückt von der Auffassung, die er in der Besprechung meines Gorbatschow-Buches6 zum Ausdruck gebracht hat. Gorbatschows

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