Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel Siegel

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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel Mit Kindern wachsen

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Faktoren machen es wahrscheinlicher, dass eine Erinnerung abgerufen wird. Dies sind unter anderem die mit der Erinnerung verknüpften Assoziationen, das Thema oder der Kern der Erfahrung, der Lebensabschnitt der Person, die sich erinnert, der zwischenmenschliche Kontext und die geistige Verfassung des Einzelnen zur Zeit des Speicherns und des Abrufens.

      Ich bin der Jüngste in der Familie und vor der Geburt meines Sohnes gab es in meinem Leben keine kleinen Kinder. Daher hatte ich nach meiner Assistenzzeit auf der Kinderstation nie Kontakt zu untröstlich weinenden Kindern. Als ich mich dann schließlich in der Gegenwart eines hartnäckig weinenden Kindes befand, reagierte ich darauf mit einem Gefühl von Panik. Diese Panik kann als eine nonverbale emotionale Erinnerung angesehen werden, die durch den Umstand hervorgerufen wurde, dass ein weinendes Kind bei mir war. Sobald mich die Panik überfiel, suchte der Erinnerungsprozess in meinem Geist zunächst nach einer autobiografischen Erinnerung, jedoch ohne etwas zu finden. Zu dieser Zeit gab es keine thematisch erzählende Erinnerung, in welche das Jahr auf der Kinderstation hätte eingewoben werden können. Das Jahr war als „Spaß und vorbei“ abgelegt und ich dachte nicht bewusst darüber nach. Dann kam die Rückblende.

      Oft gibt es einen Grund dafür, dass traumatische Erfahrungen nicht so verarbeitet werden, dass man später jederzeit problemlos auf sie zugreifen kann. Während des Traumas kann eine überlebensnotwendige Anpassung darin bestehen, die Aufmerksamkeit von den schrecklichen Aspekten eines Erlebnisses abzuwenden. Übermäßiger Stress und Hormonausschüttungen während des Traumas können außerdem direkt die Funktionen der Teile des Gehirns beeinträchtigen, die für das Speichern autobiografischer Erinnerungen erforderlich sind. Nach dem Trauma plagt uns die Erinnerung an diese Details, die nur in nonverbaler Form abgelegt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit mit zutiefst beunruhigenden Gefühlen.

      Mein Mitgefühl mit den entsetzten Kindern im Krankenhaus war erdrückend. Das Jahr war so intensiv, die Arbeit so anstrengend, die Anzahl der Patienten so groß, die Fluktuation so hoch und der Grad der Erkrankungen so schwer, dass sich meine Kraft, damit fertig zu werden, dem Ende zuneigte. Ich fühlte mich zutiefst beschämt und schuldig, weil ich den Kindern Schmerzen und Angst verursachte. Als die Assistenzzeit vorüber war, hätte ich ja sagen können: „In Ordnung, jetzt werde ich versuchen, mich an all die Schmerzen, die ich diesen schwer kranken Kindern zufügen musste, zu erinnern.“ Stattdessen dachte ich nicht weiter über das Jahr auf der Kinderstation nach und setzte mein Studium mit dem Thema „Trauma“ fort.

      Als Assistenten versuchten wir das überwältigende Bewusstsein, dass die Patienten sich als passiv, hilflos und verletzlich erlebten, zu verdrängen, indem wir uns als aktive, fähige und unverletzliche medizinische Kräfte sahen. Die Verletzlichkeit der Kinder wurde zu einer Bedrohung für unsere aktive, wenn auch unbewusste, Anstrengung, unsere eigenen Gefühle von Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu leugnen. Im Rückblick wurde die Verletzlichkeit der Kinder zu unserem Feind. Oftmals konnten wir nur wenig tun, um ihre verheerenden Krankheiten zu heilen, und unsere Unfähigkeit, ihnen zu helfen, kam zu unserem überwältigenden Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung noch hinzu.

      In diesem unerbittlichen und schlaflosen Jahr bekämpften wir Krankheiten, bekämpften die existenzielle Realität von Tod und Verzweiflung. Wir mussten die Hilflosigkeit so weit es ging aus unserem Geist verbannen, oder wir wären einfach zusammengebrochen. Die Verletzlichkeit wurde das Ziel unseres Zorns auf das Verbrechen der Krankheit, die wir nicht besiegen konnten.

      Diese unerledigte Angelegenheit zeigte sich mir in der Rolle als verletzlicher Vater meines ersten Kindes. Ich reagierte mit Scham und intensiven Gefühlen auf das Weinen und die Verletzlichkeit meines Sohnes – empfand sie als nahezu unerträglich – und auf meine eigene Hilflosigkeit, ihn zu trösten. Glücklicherweise konnte ich in einem schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis durchschauen, dass dies etwas mit einer unerledigten Angelegenheit in mir selbst zu tun hatte und kein Fehler meines Sohnes war. Und aufgrund dieser Erfahrung kann ich sehr gut nachvollziehen, wie das als unerträglich empfundene Gefühl der Hilflosigkeit Eltern dazu bringen kann, in ihrem Verhalten gerade auf diese Hilflosigkeit bei Kindern abzuzielen und sie deswegen anzugreifen. Selbst mit Liebe und den besten Absichten können in uns immer noch alte Abwehrmechanismen wirken, die Verhaltensweisen und Erfahrungen unserer Kinder für uns unerträglich machen. Dies mag die Ursache für ein „ambivalentes Elternverhalten“ sein. Wenn Kinder in uns dieses unsägliche Gefühl hervorrufen, das wir nicht bewusst empfinden und sinnvoll in unser Leben integrieren können, laufen wir Gefahr, es auch in unseren Kindern nicht tolerieren zu können. Diese Intoleranz kann uns für die Gefühle unserer Kinder blind machen oder uns diese einfach ignorieren lassen. Dadurch empfinden die Kinder sie als unwirklich und werden von ihrer eigenen Gefühlswelt abgeschnitten. Unsere Intoleranz lässt uns manchmal auch energischer reagieren, zum Beispiel ungeduldig, verärgert oder sogar mit einem direkten, wenn auch nur unbewusst beabsichtigten Angriff auf die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit des Kindes. Das arglose Kind wird zum Empfänger feindseliger Reaktionen, die mit seinem inneren Identitätsgefühl verwoben werden und seine Fähigkeit, diese Emotionen in sich selbst zu tolerieren, unmittelbar beeinträchtigen.

      Wenn wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herumtragen, ist es unbedingt erforderlich, dass wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und unseren emotionalen Reaktionen gegenüber unseren Kindern nachzuspüren. Wenn wir uns selbst verstehen, geben wir unseren Kindern die Gelegenheit, ihr eigenes Gefühl von Lebendigkeit zu entwickeln, und die Freiheit, ihre eigene Gefühlswelt ohne Einschränkungen und Ängste zu erleben.

      Unterschiedliche Arten des Gedächtnisses

      Warum tragen wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herum? Warum beeinflussen vergangene Erlebnisse unsere Gegenwart? Wie wirkt sich Erfahrung eigentlich auf unseren Geist aus? Warum beeinflussen vergangene Ereignisse weiterhin unsere gegenwärtige Wahrnehmung und bestimmen mit, wie wir unsere Zukunft gestalten?

      Die Gedächtnisforschung liefert aufregende Antworten auf diese grundlegenden Fragen. Vom Beginn unseres Lebens an können unsere Gehirne mit der Verknüpfung ihrer Grundbausteine, der Nervenzellen, auf Erlebnisse reagieren. Diese Verknüpfungen bilden die Gehirnstruktur und man hält sie für eine sehr wirkungsvolle Methode des Gehirns, sich an Erfahrungen zu erinnern. Die Gehirnstrukturen formen die Gehirnfunktionen. Die Funktionen wiederum bringen den Geist hervor. Zwar bestimmen auch genetische Informationen grundlegende Aspekte unserer Gehirnanatomie, aber unsere Erfahrungen erschaffen die einzigartigen Verknüpfungen und formen die individuelle Grundstruktur jedes Gehirns. Auf diese Weise formen unsere Erfahrungen unmittelbar die Struktur unseres Gehirns und bringen so den Geist hervor, durch den wir uns definieren.

      Das Gedächtnis ist das Verfahren, mit dem das Gehirn auf Erlebnisse reagiert und neue Verknüpfungen herstellt. Die zwei Arten von Gedächtnis lassen sich durch die zwei Methoden beschreiben, wie Verknüpfungen hauptsächlich erzeugt werden: implizit und explizit. Für das implizite Gedächtnis werden bestimmte Schaltkreise im Gehirn angelegt, die für das Erzeugen von Emotionen, für Verhaltensreaktionen, Wahrnehmungen und wahrscheinlich die Verschlüsselung körperlicher Empfindungen zuständig sind. Es ist ein frühes, nonverbales Gedächtnis, das von der Geburt bis zum Lebensende verfügbar ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des impliziten Gedächtnisses sind die so genannten mentalen Modelle. Durch mentale Modelle erzeugt unser Geist Verallgemeinerungen wiederholter Erfahrungen. Wenn sich zum Beispiel ein Baby getröstet und geborgen fühlt, wenn die Mutter auf seinen Kummer antwortet, wird es diese Erfahrung verallgemeinern, so dass ihm die Anwesenheit der Mutter ein Gefühl von Wohlbefinden und Sicherheit vermittelt. Wenn es zukünftig über irgendetwas bekümmert ist, wird das mentale Modell seiner Beziehung zu seiner Mutter aktiviert und es wendet sich Trost suchend an seine Mutter. Unsere Bindungsbeziehungen beeinflussen, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen. Durch wiederholte Erfahrungen mit unseren Bindungspersonen erzeugt unser Geist mentale Modelle, die unsere Vorstellungen über andere und uns selbst betreffen. In dem oben angeführten Beispiel erlebt das Kind seine Mutter als sicher und aufgeschlossen und sich selbst als fähig, etwas in seiner Umwelt zu bewirken und die Erfüllung seiner Bedürfnisse herbeizuführen. Diese Modelle erzeugen einen Filter, durch den wir unsere Wahrnehmungen

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