Wunschleben. Vera Nentwich
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Wunschleben - Vera Nentwich страница 4
Als sie die Zutaten für das Müsli zusammenstellt, zuckt sie zusammen. Der Joghurt fehlt. Der steht noch bei der Nachbarin im Kühlschrank. In Gedanken flucht sie vor sich hin und untersucht den Kühlschrank, ob sich nicht andere Frühstücksmöglichkeiten bieten. Aber es herrscht gähnende Leere. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: Den Tag ohne Frühstück beginnen oder bei der Nachbarin klingeln. Wie um die Entscheidung zu forcieren, knurrt auch noch ihr Magen. Sie wird wohl klingeln müssen. Ihr Herz schlägt schneller. Sie überlegt kurz, ob sie sich noch umziehen sollte, aber dann kommt sie sich blöd vor. Umziehen, um bei der Nachbarin zu klingeln? Das ist doch hirnrissig, schimpft sie mit sich. Doch bevor sie die Wohnung verlässt, schaut sie noch einmal prüfend in den Spiegel.
»Wird schon nichts passieren«, murmelt sie, öffnet die Wohnungstür und klingelt nebenan. Schritte ertönen und die Tür öffnet sich.
»Ach hallo, Frau Köhler«, begrüßt Bettina sie, »Sie möchten bestimmt Ihre Einkäufe abholen. Kommen Sie doch rein.«
Anja macht einen zaghaften Schritt in die Wohnung.
»Jonas ist im Kindergarten«, ruft die Nachbarin und kommt damit einer Nachfrage zuvor.
Anja folgt ihr in die Küche. Eine Kaffeetasse steht auf dem Küchentisch, neben der aufgeschlagenen Tageszeitung liegt ein angebissenes Brot.
»Bin gerade beim Frühstück. Ich habe ja erst Ruhe, wenn Jonas im Kindergarten ist. Möchten Sie auch einen Kaffee?«
Nein, danke, möchte Anja erwidern, tut es aber aus einem unerfindlichen Grund nicht. Sie steht nur da, was die Nachbarin als Zustimmung deutet.
»Mit Milch, nicht wahr?«
Anja nickt.
»Setzen Sie sich doch.«
Anja folgt der Aufforderung. Bettina stellt ihr eine große Tasse mit dampfendem Kaffee hin. Anjas Magen knurrt aufdringlich.
»Soll ich Ihnen auch ein Brot machen?« Eine Antwort wartet Bettina nicht ab, sondern steht gleich auf und sucht Brot und Aufschnitt zusammen.
»Haben Sie Urlaub?«
»Nein, ich arbeite zu Hause«, erwidert Anja.
»Oh, das ist ja angenehm. Was machen Sie denn genau?«
»Ich mache Webseiten für Firmen.«
»Das ist bestimmt ein interessanter Beruf. Ich habe ja nur den PC, um mal ins Internet zu gehen und E-Mails zu schreiben. Mehr kann ich damit nicht. So, guten Appetit!«
Sie stellt das Brot und die anderen Utensilien vor Anja auf den Küchentisch.
»Sollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Bettina.«
»Anja.«
Sie geben sich förmlich die Hand.
»Es ist schön, dass ich hier mal jemanden kennenlerne.«
Anja nickt wieder und beginnt, sich ein Brot zu schmieren, wobei Bettina erneut das Wort ergreift. »In den ersten Wochen in der Stadt hatte ich es schwer, mich zu orientieren. Ich fand mich nur schlecht zurecht und musste ständig suchen.«
Anja kann nur gelegentlich nicken.
»Am Wochenende ist hier doch Schützenfest, nicht wahr? Das soll ja ganz schön sein. Gehst du hin?«
Anja schüttelt heftig den Kopf, während sie in ihr Brot beißt.
»Och, schade. Jonas ist am Wochenende bei meinen Eltern, und ich würde gerne mal unter Leute gehen. Aber allein? Oder ist das Fest nicht zu empfehlen?«
Anjas Gedanken rattern. »Das ist nichts für mich.«
»Hast du einen Partner?«
Wieder kann Anja nur kräftig den Kopf schütteln.
»Aber dann musst du erst recht hingehen. Wäre doch schön, sich mal wieder in der Männerwelt umzuschauen.«
Am liebsten würde Anja aufspringen und wegrennen, und ist doch wie gelähmt. Panik kommt in ihr auf. Die ganze Situation überfordert sie. Alle möglichen Ausreden schwirren durch ihren Kopf, werden bewertet und auf ihre Folgen hin beurteilt.
»Ich… Ich habe keine Zeit.«
Welch blöde Ausrede, Anja rollt innerlich mit den Augen. Und wirkungslos noch dazu, wie sie sogleich an Bettinas Antwort merkt.
»Keine Zeit gibt es nicht. Komm! Gib dir einen Ruck! Ich hole dich um acht Uhr ab!«
Starre. Anja ist zu keiner Regung fähig. Es könnte ja die Falsche sein.
»Ich muss jetzt dringend arbeiten. Kunden rufen an.«
Nur schnell raus. Sie greift ihre Einkäufe und nimmt nur noch verschwommen wahr, wie Bettina ihr etwas nachruft, das wie ›Bis Freitag‹ klingt.
Der Tag verläuft wie im Nebel. Sie spricht mit Kunden, arbeitet an ihrem aktuellen Projekt und schreibt ein paar Rechnungen, aber am Abend kann sie nicht mehr sagen, was genau sie getan hat. Ständig hallen Bettinas Worte in ihren Ohren.
›Bis Freitag!‹
Immer wieder war sie kurz davor gewesen, einfach zur ihr zu gehen, zu klingeln und ihr kurz und knapp mitzuteilen, dass sie am Freitag nicht ausgehen wolle. Sie stand sogar schon an ihrer Haustür, die Hand am Türgriff. Dann aber hatte sie innegehalten. So würde doch kein normaler Mensch reagieren. Dabei will Anja nichts mehr, als ein normaler Mensch sein. Besser noch: Eine normale Frau. Ein normaler Mensch hätte doch kein Problem, mit einer Freundin auszugehen. Freundin, wie das klingt.
Schon wieder schreckt Anja zusammen. Dieses Mal aber ist es dieses komische, wohlige Gefühl, das sich in ihr breitmacht und das sie erschreckt. Freundin! Bisher hat sie keine. Aber es wäre schön, eine zu haben.
Freundinnen sind etwas ganz Besonderes. In Büchern gibt es immer wieder Geschichten über das besondere Verhältnis unter Freundinnen. Freundinnen, die sich alles erzählen. Freundinnen, die ausgehen, sich über Männer unterhalten und über sexuelle Erlebnisse. Wieder ergreift sie die Panik. Da ist etwas, das unbeherrschbar zu sein scheint, aber dennoch einen unbeschreibbaren Reiz ausübt.
Ich muss mich ablenken! Das übliche Abendritual könnte helfen. Wasser kochen, Tee aufgießen und dann mit einem guten Buch auf die Couch legen. Vielleicht schaut sie heute noch die Tagesschau, um wieder auf dem Laufenden zu sein, was so in der Welt los ist. Und in dem Krimi, den sie gerade liest, kommen keine Freundinnen vor. Nur ein einsamer und wortkarger Detektiv.
Das Ritual hilft. Als sie später ins Bett geht, ist die Panik nicht mehr zu spüren. Morgen wird sie klarer sehen und die Verabredung absagen, da ist sie sich ganz sicher.
Das Aufwachen ist wie immer. Keine Erinnerung an einen Traum. Das Morgenprogramm läuft ebenso automatisch ab wie jeden Tag. Heute entscheidet Anja sich für den kurzen schwarzen Rock, der viel von ihren Beinen zeigt. Sie hat schlanke Beine. Einer der wenigen Vorteile, sagt sie sich immer. Sie braucht das gute Gefühl, das ihr dieser Rock und die Nylonstrümpfe geben. Gleich wird sie bei der Nachbarin klingeln und höflich