Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein
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Mit Sicherheit war es auch der Streit um die Mainzer Rechte und Freiheiten in jenen Jahren, der den Rat veranlasste, die königlichen Rechte und Privilegien der Stadt zweimal, im Jahre 1442 und nochmals im Februar 1444, als sich der Rechtsstreit mit dem Erzbischof zuspitzte, zusammenstellen und notariell beglaubigen zu lassen.62 Über Friedrich II. und damit über das 13. Jahrhundert allerdings reichten die städtischen Urkunden nicht zurück, über die man damals verfügte. Das Resümee der kleinen Chronik hob den Stauferkaiser daher nicht zufällig als Wohltäter der Stadt hervor. Aber auch die erzstiftische Verwaltung konnte keine Urkunde Dagoberts vorlegen, sondern lediglich einen vagen, höchst spekulativen Registereintrag.63 Demgegenüber beschwor auch der Text der prostädtischen Chronik am Ende noch einmal den Glauben an die Privilegierung der Stadt bereits durch König Dagobert: Kaiser Friedrich II. habe die Freiheiten Dagoberts bestätigt, die von vielen späteren Kaisern erneut bestätigt worden seien – und so mussten doch alle diese Freiheiten letztlich aus einer Zeit stammen, in der noch kein Bischof zu Mainz irgendwelche Rechte hatte, wie der Chronist resümierte.
IV. Dekonstruktion und Weiterleben der Dagobert-Legende seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
Die kaiserlichen Mainzer Privilegien waren nach der Unterwerfung unter den Erzbischof im Jahre 1462 kein Thema der Auseinandersetzung mehr, alle unmittelbaren Kontakte der Stadt zum Reich brachen damals ab.64 Die Geschichte von Dagobert als dem Wiederbegründer der Stadt und von seiner Mainzer Königsburg, wie sie bereits Gozwin im 11. Jahrhundert formuliert hatte, hielten aber auch die Gelehrten und Historiker des Mainzer Erzstifts wie Nicolaus Serarius oder Georg Christian Joannis im 17. und 18. Jahrhundert selbstverständlich weiterhin für wahr.65 Anlass für einen neuen Aufschwung der Legende im populären Bewusstsein der Mainzer war dann die französische Herrschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Denn mit dem Frankenkönig Dagobert konnte man eine enge Verbindung der Metropole am Rhein mit der französischen Nation und ihren nationalen Mythen konstruieren. So schweben über einer Mainzer Stadtansicht von 1807/09, die Teil des großformatigen sogenannten Brühlschen Plans war, drei mit Girlanden verbundene Medaillons, die von Engeln gehalten werden (Abb. 2). Neben zwei Mainzer Bürgern, Johannes Gutenberg und Walpod, dem Gründer des Rheinischen Städtebundes von 1254, sowie neben dem aktuellen Herrscher Napoleon huldigte das dritte Medaillon Dagobert I., dem König der Franken und Restaurator der Stadt Mainz.66
Noch der renommierte Historiker Karl Anton Schaab hat die historische Überlieferung von Dagobert als Bewohner einer Mainzer Königsburg und als Gründungsfigur der Stadt geglaubt und in seiner einflussreichen Geschichte der Stadt Mainz von 1840 ausgebreitet.67 Noch hielt Schaab auch die beiden Urkunden für das Bistum Worms und St. Maximin in Trier mit den angeblichen Belegen einer Mainzer Königspfalz für echt.68 Erst die Publikation der ersten Ausgabe der Merowingerurkunden durch die Monumenta Germaniae Historica im Jahr 187269 brachte das Gebäude ins Wanken. Aber könnte nicht doch eine Pfalz vorhanden gewesen sein, wenn Dagobert seinen Weg 630/31 in das Wendenland gerade über Mainz nahm?70 So jedenfalls suchte noch Franz Falk 1873 eine solche Königspfalz für Mainz zu Zeiten Dagoberts zu retten, auch wenn die betreffenden beiden Urkunden von 628 und 634 seinen Worten zufolge mittlerweile „stark beanstandet“ worden seien.71
Abb. 2: Ehrentafel für König Dagobert I. als dem Wiederbegründer der Stadt Mainz im Stadtplan von Heinrich Brühl aus der Zeit um 1807/09 (Stadtarchiv Mainz, BPSP 392 D).
Einige Jahre später sprach sich der Herausgeber der Mainzer Chroniken, Karl Hegel, über die eingangs dieses Beitrags zitierte Geschichte so aus: „Ob und in wie weit der durchaus fabelhafte Gehalt derselben aus freier Dichtung entsprungen ist oder auf älterer Überlieferung beruht, wüßte ich nicht zu sagen […] Wie weit im übrigen die historische Sage von der Erbauung von Mainz durch K. Dagobert im Mittelalter zurückreicht, will ich hier nicht untersuchen.“72 In der wissenschaftlichen Terminologie der Zeit war mit den Begriffen „fabelhaft“, „freie Dichtung“, „ältere Überlieferung“ und „historische Sage“ das Urteil gesprochen. Die Geschichte von Dagobert als dem Erbauer der Stadt Mainz hatte seit der Entwicklung der modernen Methoden der wissenschaftlichen Textkritik im 19. Jahrhundert nicht nur ihre sachliche Glaubwürdigkeit, sondern auch ihre Relevanz eingebüßt – und der Historiker Hegel gedachte nicht, sich damit näher zu befassen.
Wenn Hegel die Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ als Ganzes abqualifizierte, übersah er dabei freilich, wie aufschlussreich dieser Entwurf einer volkssprachlich abgefassten Mainzer Frühgeschichte im Ganzen, aber gerade auch das Dagobert-Motiv mitsamt den daraus abgeleiteten rechts- und verfassungsrelevanten Schlussfolgerungen für das Selbstverständnis und die historische Selbstvergewisserung73 der Mainzer Bürgerschaft des 15. Jahrhunderts war – in einer ökonomischen und sozialen Krisenzeit, als der weitere Verlauf der Mainzer Geschichte auf des Messers Schneide stand.
Darüber hinaus reflektiert der Bericht auch über den Einzelfall hinaus verbreitete Erzählmotive der Stadtgeschichtsschreibung. Dazu gehören Vorstellungen von einer latenten Bedrohung, die von einer nahe gelegenen Burg und ihren Bewohnern ausging, gegen die man sich als Stadtbürger am besten mit der Errichtung einer eigenen Mauer und der Zerstörung der Burg wehrte, von der die Bedrohung ausging.74 Ein anderes Erzählmotiv ist der schon bei Gozwin angelegte Plot „Von der völligen Zerstörung zu einem Wiederaufstieg, der zu größerer Pracht und Bedeutung führt als jemals zuvor“.75 Auch wenn ein Germaneneinfall in der Neujahrsnacht 407 mit katastrophalen Verwüstungen für Mainz verbürgt ist, lässt sich tatsächlich doch weder die eine entscheidende Situation einer totalen Zerstörung der Stadt noch der konkrete Zeitpunkt für einen umfassenden Wiederaufbau angeben. Der Hunneneinfall von 451 scheint dagegen für Mainz, anders als es Gozwins „Passio Albani“ behauptet hatte, keine größeren Schäden verursacht zu haben. Alle historischen Indizien verweisen vielmehr hier wie auch anderswo in der Spätantike auf eine längere Fortdauer römischer Herrschaft und Kultur auf einem reduzierten zivilisatorischen Niveau, bevor sich die Situation auch des Mainzer Bischofssitzes im Frankenreich wieder festigte.76 Doch sind solche zuspitzenden Vereinfachungen typisch für eine Geschichtsschreibung, der es auf die Festigung einer historisch begründeten kollektiven Identität ankam, sei es eines Klosters oder einer Stadtgemeinde.77 Die Forschung hat erst in jüngerer Zeit den Wert solcher Überlieferungen für das Selbstverständnis der dahinter stehenden Milieus, aber auch den Zusammenhang dieser Erzählungen mit bestimmten erzählerischen Grundstrukturen erkannt.
Als zweiter Stadtgründer von Mainz hat Dagobert im Rahmen einer faktischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert ausgedient. Der Glaube an oder zumindest Spekulationen um eine merowingische Königsburg, vielleicht auch eine Dagobert-Burg, hielten und halten sich dagegen hartnäckig, obwohl die beiden Urkunden, die früher als Kronzeugen galten, sich als Fälschungen erwiesen haben. So wurde 1890 nach der Auffindung geheimnisvoller Ruinen am Südbahnhof – dem Römischen Theater, wie sich später herausstellte – eine Straße in nächster Nähe dieser Ruinen nach König Dagobert benannt.78 Und Archäologen suchen bis heute nach der frühmittelalterlichen Königsburg.79
1 Dieser Turm wurde wohl in die erzbischöfliche Martinsburg einbezogen, die in den 1470er Jahren errichtet