Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden. Martina Leibovici-Mühlberger

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Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden - Martina Leibovici-Mühlberger

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      Willkommen in der schönen neuen bunten Welt

      Jetzt macht sich angesichts der Anschuldigungen, die ich gegen bemühte Eltern und rastlose Gesellschaftspolitik erhebe, wohl gerade Empörung breit. Die Gegenbeweise liegen doch auf der Hand! Noch nie haben wir uns so bewusst für ein Kind entschieden, noch nie wurde so viel über Kinder geschrieben und gelesen, noch nie so viel in Kinder investiert, denn dass Kinder eine teure Angelegenheit sind, weiß heute jeder. Dennoch lassen wir sie als Gesellschaft substanziell im Stich und weigern uns als Eltern, unseren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Der unterschiedlich ausfallende Protest der Kinder, der sich in diversen Auffälligkeiten niederschlägt, ist erst der Anfang. Denn irgendwann werden sie ja doch erwachsen oder zumindest ausgewachsen sein.

      Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, müssen wir die Uhr ein paar Jahre zurückdrehen und die Entwicklungen Revue passieren lassen.

      Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Welt noch sehr eindeutig und simpel gegliedert. Es gab die Guten auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite. Das war bequem und vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, Überblick, Kontrolle und natürlich Zugehörigkeit – Zugehörigkeit zu den Guten versteht sich, denn egal auf welcher Seite man stand, man gehörte immer zu den Guten! Wichtig war nur, dass es zwei Seiten gab, denn darauf gründete das ganze Spiel. Und natürlich darauf, dass man es möglichst schwer machte, die andere Seite kennenzulernen und sie als gefährlich verkaufte. Man zitterte vor den anderen, pflegte seine Abgrenzung und fühlte sich in der eigenen Haut wohl und bestätigt. Auf diese Weise gelingt es solchen Systemen besonders identitätsspendend zu werden. Und es tut ausnehmend wohl, wenn man weiß, wer man ist und dieses Wissen nicht erst Stück für Stück mühselig erwerben muss, wie es heute im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten und vor allem der unterschiedlichsten Wertvorstellungen der Fall ist.

      Für mich bedeutete das in meiner Jugend, dass alle Bösen hinter dem Eisernen Vorhang saßen, während ein imaginäres kollektives »Wir« im Westen a priori die Guten verkörperte. Das führte dazu, dass eine Reise nach Budapest einem Abenteuer glich, das von Kommilitonen bewundert und durch stundenlange Grenzkontrollen durch finster dreinblickende Beamte behindert wurde. Es zwang einen auch, einen Blick auf Stacheldrahtverhaue, Hundepatrouillen, Maschinengewehre und Wachtürme samt grellen Scheinwerfern zu werfen, was wohlige Gänsehaut verursachte und die Idylle der eigenen Lebensart im wenige Kilometer entfernten Wien bestätigte. Bukarest fühlte sich von seiner Erreichbarkeit her an, als würde es auf den Osterinseln liegen, und die Berliner Mauer allein war schon die Verkörperung der schwarzen Macht.

      Es herrschte ein Gleichgewicht des Schreckens, aber immerhin ein Gleichgewicht. Das war schon einmal etwas, auf dem man aufbauen und in dem man einen sicheren Rahmen und einen Platz finden konnte. Von dem aus konnte man unter den klaren Wertevoraussetzungen dieser Gesellschaft schaffen oder auch raffen wie man wollte. Wie heißt es doch so schön: Gib mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!

      Dann kam die Wende und mit ihr der Sieg unseres Teiles der Welt und damit unserer Werte. Da wir für uns die Rolle der »Guten« beanspruchen konnten und uns Demokratie, Wohlstand, Kapital und Konsum auf die Fahnen geheftet hatten, war das natürlich besonders fein. Die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion als Protagonisten der »bösen anderen« lassen wir hier beiseite, auch wenn sie in ihrer Tiefendynamik jenseits von Politik höchst spannend sind.

      Doch wir wollen uns hier zügig auf die Misere unserer Kinder konzentrieren, die wir verkauft, instrumentalisiert, betrogen haben und in der sensiblen Zeit des Aufwachsens und der Orientierungssuche einfach im Stich lassen. Wir wollen uns anschauen, wie die Antwort aussehen wird, die sie uns bald geben werden. Dafür müssen wir uns vorher aber im Tiefengebälk unseres psychologischen Kellers mit den Auswirkungen unseres Sieges und damit mit den gesellschaftlichen Überzeugungen auseinandersetzen, die sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entwickelt haben.

      Wie sich unser Menschenbild verändert hat oder Wer wir heute sind

      Seit den frühen Neunzigerjahren sind alle westlichen Konsumstaaten, die sich mittlerweile zu postmodernen Technologiegesellschaften transformiert haben, also Sieger. Und mit ihnen natürlich auch ihre Grundüberzeugungen und ihr Selbstkonzept, das allein durch die »Befreiung der anderen« und die Durchsetzung »unserer Ideologie« einen enormen Schub fürs Ego erhalten hat. Wir haben mit unserer Haltung letztendlich also »recht« gehabt! Recht zu haben ist ein sattes, schmeichelndes Gefühl und führt bekanntlich dazu, dass man sich überlegen fühlt und glaubt, andere belehren zu können.

      Was also ist unser Erfolgsrezept? Wie baut man die richtige Gesellschaft auf?

      Wir präsentieren die Zutaten unserer Erfolgsgeschichte gern laut und inszenieren uns in unserer Verliebtheit in Selbstdarstellung am liebsten permanent.

      Besonders bedeutend, ja fast schon sakral verbrämt in unserem gesellschaftlichen Wertekoffer ist natürlich »die Freiheit«, und zwar bitte die »vollkommene«. Wir wollen heute alle frei leben, absolut frei, und ja keine Zwänge oder irgendetwas, das unsere Freiheit beschränken könnte, akzeptieren. Folgerichtig haben wir alles, das wir auch nur in der Nähe von autokratisch oder autoritär vermuten, auf der Fahndungsliste. Autorität per se ist schon suspekt. Dementsprechend haben wir in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten auch gerne und viel von der Freiheit gesprochen: von der freien Marktwirtschaft zum Beispiel, dem freien Spiel der Kräfte, der freien Entfaltung und natürlich der freien Wahl, denn Wahlfreiheit – nicht die bei der politischen Wahl, die interessiert uns und die Jüngeren zunehmend weniger, sondern die der persönlichen Lebensgestaltung – ist uns nahezu heilig. Wir wollen jeder in unser Mickymaus-Leben hineinpacken, was uns gerade gefällt, und es natürlich auch jederzeit wieder verändern, wenn eine Durststrecke droht und das Gewählte sich vielleicht als mühevoll herausstellt. Sonst wären wir ja blöderweise nicht mehr frei.

      Damit stehen wir bereits am Rande einer Schlangengrube. Denn wenn das wundervolle Privileg der Wahlfreiheit nicht auch eine entsprechend ernsthafte Wahlverantwortung mit einschließt, entsteht daraus Beliebigkeit mit all ihren fatalen Konsequenzen. Aber das ist möglicherweise nur etwas für Spitzfindige – und für unsere Kinder, die das ganz genau erfasst haben.

      Gleich neben der Fürstin »Freiheit« finden sich als beste Freundinnen »die Potenzialentfaltung« und »die Individualität«, praktisch unzertrennlich, die eine heute die Steigbügelhalterin der anderen. Dass sie bisweilen auch schrill daherkommen können, tut ihrer Popularität nicht im Geringsten Abbruch. Kein Extrem wird hier ausgelassen, egal, ob es um Körperschmuck, Haartracht, skurrile Hobbys oder das Zusammenleben mit Alligatoren geht. Hauptsache, man fällt auf. In dieser Siegerpose des unverwechselbaren Individualisten, der sein Potenzial voll ausschöpft und sein Leben nach eigenem Dafürhalten inszeniert, sehen wir uns heute gerne.

      Wir sehen uns überhaupt äußerst gerne und beschäftigen uns am liebsten mit »Postings« in der ornamentalen Bilderkultur von Facebook und anderen Social Media Plattformen. Jeder sein eigenes Kunstwerk, eine Selbstinstallation »in progress«, denn Selbstbespiegelung wärmt und tut gut. In einer Zeit, in der das Bekenntnis zum Egoismus als ehrliches Outing unserer angeblichen Natur schicke Partygängigkeit verspricht, gehört es als Grundhaltung einfach dazu. Ein wenig infantil mutet diese Selbstverliebtheit in die eigene Größe allerdings schon an, bisweilen sogar etwas verzweifelt. Nämlich dort, wo das Bedürfnis nach Originalität bizarre Formen anzunehmen droht, indem man als Bilderstürmer der letzten Tabus unterwegs ist, um damit die ersehnte Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das Bedürfnis, in dieser so beängstigend freien Gesellschaft, die gleichzeitig immer engere Kontrollmechanismen als Gegenbalance einzuziehen versucht, seine Originalität zu begründen und etwas Besonderes zu sein, um endlich einen festen Punkt zu finden, ist enorm.

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