Das Biophilia-Training. Clemens G. Arvay
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Biophilia-Training ist Abenteuer. Wenn die Zeit für einen Ausflug zu den Felsen nicht reicht, mache ich mich zum Waldlauf rund um meinen Wohnort auf. Nicht weit von dort liegt ein idyllischer Waldsee, der aus einem Altarm der Donau entstanden ist. An dem See befindet sich ein natürlich gewachsenes Trainingsgerät. Ein alter, durch das Wasser abgeschliffener und konservierter Baumstamm liegt dort im Uferbereich des Sees. Er erstreckt sich vom Waldrand etwa zehn Meter ins Wasser und eignet sich durch seine hohe Stabilität zum Balancieren und Klettern. Ich nutze ihn, um Klimmzüge zu machen. Ein paar Enten sind immer dabei und feuern mich durch ihr Schnattern an.3 In den Wäldern rund um mein Haus entstanden die meisten Fotos aus diesem Buch. So wie damals, als Tina Vindum aus dem Fitness-Studio hinaus in die Wildnis der Sierra Nevada lief, war es auch bei uns gerade Herbst, als Mariya Beer, unser Fotograf Michael Baumgartner und ich zum Biophilia-Training in die Wälder der Wachau auforachen.
An diesem nebeligen Tag, an dem sich uns die Natur von ihrer wilden Seite zeigte, sollte ich noch viel Neues lernen. Wir befanden uns in einem mir sehr vertrauten Wald, durch den ich schon hunderte Male gelaufen und mit dem Rad gefahren war. Ich war überzeugt davon, die sportlichen Potenziale meiner Umgebung bereits zur Gänze zu kennen. Doch Mariya öffnete mir mit ihrem erfahrenen Blick als Fitness-Trainerin an diesem Tag die Augen für die vielen, von mir bislang ungenutzten Möglichkeiten des Waldes. Ein Baumstamm, der durch einen Sturm umgefallen war und zwischen zwei standfesten Bäumen eingeklemmt wurde, diente uns als »Gerät« für verschiedene Kraftübungen, für die Sie in diesem Buch die Anleitungen finden. Seltsam, zuvor war ich an diesem Baumstamm immer achtlos vorbeigelaufen. Seit unserem Fototermin ist er aber ein fixer Bestandteil meiner Waldläufe. In diesem Buch werden wir Sie an den Erkenntnissen teilhaben lassen, die wir während unserer Trainingseinheiten in der Natur gewonnen haben. Liegende Baumstämme eignen sich hervorragend für Kraftübungen, für Ausdauertraining und für Geschicklichkeitsübungen, die auch Freude bereiten. Herumliegende Äste und Teile von Stämmen sind nicht nur Kennzeichen eines ökologisch intakten Waldes, sondern stehen für viele verschiedene Übungen zur Verfügung, mit denen wir unser Muskelkorsett so richtig in Gang setzen und unsere Haltung verbessern können.
Der Wald ist ein natürlicher Physiotherapeut. Seit ich meine Liegestütze auf Felsen mache, fühlen sie sich auf herkömmlichen Unterlagen nicht mehr »richtig« an. Einmal hatte ich mir vorgenommen, zum Biophilia-Training in den Wald zu laufen, als das Wetter unerwartet schlecht wurde. Ich war etwas krank und zunächst war ich unsicher, ob ich mich bei so unwirtlichem Wetter mit Halsschmerzen und Schnupfen auf den Sport im Wald einlassen sollte. Ich tat es.
Und siehe da: Ganz anders als befürchtet, wurde meine Verkühlung im Laufe des Tages nicht stärker, sondern es ging mir nach ein paar Stunden im Wald immer besser. Ich war beeindruckt von der Wirkung, welche die Waldluft auf mich ausübte. Nach getaner Arbeit fühlte ich mich deutlich besser als davor. Wie Sie später in diesem Buch noch ausführlich erfahren werden, enthält die Waldluft bioaktive Pflanzenstoffe, die nachweislich unser Immunsystem stärken und uns sogar vor Krebs schützen. Die Bäume im Wald unterstützen zahlreiche unserer Körperfunktionen und halten uns gesund. Der Wald ist aber nicht nur Arzt und Physiotherapeut, er ist auch Psychotherapeut. Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Sport in der Natur sogar gegen psychische Störungen wirkt und unser Sozialleben verbessert. An die gesundheitsfördernde Wirkung der Natur kommt kein Fitness-Studio heran.
Wir werden in diesem Buch auch zeigen, dass Eis und Schnee kein Grund sind, auf das Biophilia-Training in der Natur zu verzichten. Sport im Wald ist zu jeder Jahreszeit auf komfortable Weise möglich und steigert von Jänner bis Dezember unsere sportlichen Leistungen sowie unsere Gesundheitskräfte.
Mariya Beer war bei der Arbeit an diesem Buch überwiegend für die Konzeption der Übungen verantwortlich und brachte sich mit ihrem fundierten Wissen über das Training in der Natur ein. Meine Beiträge als Biologe finden sich vor allem in den Abschnitten wieder, in denen es um die körperlichen und psychologischen Wirkungen der Pflanzen und Landschaften auf den menschlichen Organismus geht.
Das Biophilia-Training ist der Weg zur Traumfigur und zur sportlichen Höchstleistung mithilfe des Waldes. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Buch.
Clemens G. Arvay
Krems an der Donau, 31. Jänner 2016, unmittelbar nach einem winterlichen Waldlauf
Der Biophilia-Effekt
Sport im Wald ist Sport »zuhause«
Wenn Ihnen der Aufenthalt in der Natur ein gutes Gefühl verschafft, dann ist es Ihre Biophilia, die Sie spüren. Das ist die Verbindung, das heilsame Band, zwischen Mensch und Natur, das sich im Laufe der Evolution in uns entwickelt hat. Das wusste schon Erich Fromm, der große deutsch-amerikanische Psychoanalytiker (1900 bis 1980).
Er sprach von den »biophilen Kräften« tief in der menschlichen Psyche, die sich nach den Lebens- und Wachstumsprozessen der Natur sehnen.4 Fromm ging davon aus, dass uns die Biophilia gesund erhält und seelisch ausgleicht, sofern wir ihr durch Kontakt zur Natur Raum geben. In den frühen Achtzigerjahren, nach Erich Fromms Tod, übernahm der in Fachkreisen weltweit renommierte Professor Edward Wilson an der Harvard University den Begriff in die Evolutionsbiologie und setzte die »Biophilia-Hypothese« in die Welt. Diese besagt, dass die Liebe zur Natur genetisch in uns angelegt ist. Als die Spitzensportlerin Tina Vindum aus dem Fenster des Fitness-Studios blickte und ihrem Drang nach draußen nicht mehr widerstehen konnte, war es die Biophilia, von der sie angetrieben wurde. In Vindums öffentlichem Lebenslauf erfahren wir, dass sie in den »atemberaubenden Bergen der Sierra Nevada« aufwuchs. »Es ist kein Wunder«, heißt es weiter, »dass sie eine solche Leidenschaft für Outdoor-Sport entwickelte.« 5
Aus zahlreichen wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass die Biophilia aber in fast allen Menschen wirkt und nicht nur in jenen, die im Grünen aufgewachsen sind oder, so wie Tina Vindum, sogar in einem Naturschutzgebiet. Nur sehr wenige von uns behaupten über sich selbst, keine Begeisterung für die Natur zu empfinden. Das Phänomen »Biophobia«, also das Gegenteil der Biophilia und somit die Ablehnung von Naturkontakt, taucht in umweltpsychologischen Umfragen nur selten auf. Obwohl unser gesellschaftliches Verhalten alles andere als naturfreundlich ist, bezeichnet sich fast niemand als »Naturhasser«. Ein prominenter Biophobiker ist der US-amerikanische Schauspieler, Filmemacher und Komödiant Woody Allen. Nach eigenen Angaben meidet er jeglichen körperlichen und sozialen Kontakt zu Tieren und Pflanzen und würde auch nie in einem natürlichen See schwimmen, »weil dort lebende Dinge drin sind«. Woody Allen bezeichnete New York City als das für ihn genau richtige Maß an Natur. Mehr Wildnis wolle er nicht.6
Auch wenn immer wieder über Menschen berichtet wird, für die von den Pflanzen und Tieren, den Flüssen und Seen, den Bergen und Wäldern nichts Reizvolles ausgehen soll, sind wir (die Autoren dieses Buches) in der Realität noch nie einem Menschen begegnet, der so wie Woody Allen über sich gesagt hätte, die Natur ließe ihn völlig kalt und er meide jeden Kontakt zu ihr. Unsere Erfahrungen aus Gesprächen mit Menschen lehrten uns vielmehr, dass die Natur für fast jeden von uns mit positiven Gefühlen verbunden ist, ganz egal, ob wir gebildet oder weniger gebildet sind, alt oder jung, reich oder arm. Uns ist noch kein bekennender Biophobiker begegnet – schon gar nicht unter Sportlern.
Professor Wilsons »Biophilia-Hypothese« dürfte also auf die meisten von uns zutreffen. Das Band zwischen Mensch und Natur ist uns in die Wiege gelegt. Ein Blick auf unsere Evolutionsgeschichte macht deutlich, dass es eher verwunderlich wäre, wenn das nicht so wäre. Zehntausende, ja sogar hunderttausende Jahre lang lebten unserer Vorfahren in Wäldern und in der afrikanischen Savanne. In der Savanne vollzog sich sogar der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens. Die Natur, aus der wir entstammen, hat unmittelbar mit unserer Identität als Menschen zu tun. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass wir modernen Menschen noch immer eine unbewusste Vorliebe für Savannenbäume