Unter Extremisten. Ramazan Demir
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Der Prediger ist aber nicht bloß großer Bruder. Er ist bedeutend mehr als das. Er ist auch Freund. Man trifft sich zum Paintball-Spielen. Man verabredet sich in einem Internet-Café, teilt den gemeinsamen Nervenkitzel bei Counter Strike, einem Egoshooter-Klassiker. Auch, insbesondere an schönen Tagen draußen im Park, lehrt er sie sein Wissen über Kampfsporttechniken. Und zwischendurch werden Allerweltspläne geschmiedet, wird gescherzt. Geplaudert. Über dies und das. Und über Allah. Später dann, in seinen Predigten, geht es schärfer, bedeutend konkreter zur Sache. Man hört von den Ungläubigen. Davon, dass sie nichts als den Tod verdienen. Davon, dass der Islamische Staat der richtige Weg, der einzig richtige Weg dorthin sei. Der Aufbau des IS sei in vollem Gange. Doch es brauche noch mehr Kämpfer. Unerschrockene, von Leben und Gesellschaft Benachteiligte wie sie alle.
Es ist dies ein durch und durch typischer Weg der schleichenden Radikalisierung, den Musa und seine Freunde da durchlaufen. Fast schon klischeehaft. Ein Klassiker, der in unzähligen Nuancen auftritt, letztlich aber, die immer selbe Maske des Bösen zeigt.
Bald schon ist Musa und seinen Freunden klar: Die Zeit des sinnbefreiten Abhängens ist vorüber. Ihr Leben muss endlich (wieder) einen Sinn bekommen. Man hat sie auserwählt.
Man gibt ihnen die einmalige Chance, sich nicht bloß als Rädchen mitzudrehen im knirschenden Weltgefüge, sondern selbst einzugreifen, selbst etwas mitzubestimmen, eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Mission. Eine göttliche Mission. Man stellt ihnen ein Ideal vor Augen, das ausreichend groß ist, dass sie sich fügen und dahinter zurücktreten, als Einzelner, dass sie sich zum Teil einer Gemeinschaft machen, um letztlich darin zu verschmelzen.
Ja, sagen sie eines Tages. Sie wollen das jetzt auch. Der Prediger findet lobende Worte für sie. Dann wieder mahnt er sie, nicht vom gerade erst eingeschlagenen Pfad abzufallen. Höllenszenarien werden beschworen für jene, die es im letzten Moment doch tun, die Schwäche zeigen. Himmlische Fanfaren ausgebracht für jene, die sich unerschütterlich zeigen. Wechselbäder der Gefühle ergießen sich über sie. Doch Musa und seine Freunde bleiben standhaft. Jetzt erst recht.
Abermals lobt sie der Prediger. Und er zeigt sich auch auf andere Weise erkenntlich. Er organisiert ihnen ein Auto. Geld fürs Benzin. Es reicht weit. Unbehelligt erreichen sie die türkische Grenze zu Syrien. Hier nimmt alles seien Lauf. IS-Schergen nehmen den fleischlichen Nachschub in Empfang. Man gibt ihnen Waffen und klare Befehle. Tag eins von acht langen Monaten. Verabschiedung von der Familie hat es keine gegeben. Nur ein stilles Davonschleichen.
Irgendwann einmal, Wochen später, die eine oder andere Botschaft in die ehemalige Heimat. Damals denkt er nicht im Traum daran, er könnte sich eines Tages abermals klammheimlich aus seinem Leben davonstehlen.
Jetzt, hinter Gittern, will Musa Verantwortung übernehmen. Für seine Mutter. Für die Schwestern. »Ich habe sie im Stich gelassen, möchte für sie da sein. Was bin ich bloß für ein Mensch?« Sie denken bestimmt, hier im Gefängnis sei es ähnlich verheerend wie in einem Gefängnis in Tschetschenien. Ob ich vermittelnd einspringen könne? Zugleich beklagt er auch, dass es kein Halal-Fleisch gebe.
»Die Juden kriegen ihr koscheres Essen. Warum nicht auch wir?«
Musa fühlt sich als Opfer. Beim Thema halal kann ich ihm nicht helfen. Dafür gelingt es mir, ihn aus der Isolation der Einzelhaft zu holen, zu bewirken, dass er in eine Zwei-Mann-Zelle kommt. Musa erträgt die Einsamkeit nicht. Ein aus der Außensicht womöglich nichtiger Teilerfolg, doch er festigt Musas Vertrauen in mich zusätzlich.
Und so kommen wir abermals auf die Verantwortung zu sprechen – auf die Verantwortung abseits jener, die er neuerdings für seine Familie zu haben glaubt. Allzu rasch steht wieder das Wort Opfer im Raum. Unausgesprochen, doch klar umrissen wie ein Phantasma, das sich sichtbar macht, um jeden Zweifel über seine Existenz auszuräumen.
»Diese Verbrecher ziehen den Koran in den Dreck«, poltert er los.
Ich bin froh, dass er das so sieht. Doch dann, fast trotzig, setzt er hinterdrein: »Der Prediger ist schuld. Dieser Arsch!«
Wiederum einer dieser aufblitzenden Momente, da ich an seinem Prozess der Läuterung ernsthaft zweifle. Denn in diesen Momenten fühlt er sich nicht als Täter. Er ist, wenngleich er das Wort nicht in den Mund nimmt, Opfer. Opfer der Umstände. Zuerst die Sache im Park. »Wir haben uns gegenseitig hochgepuscht. Die Gruppe.«
Natürlich, denke ich. Nichts öffnet die Schleusen für Verführung und falsche Führung leichter und weiter als ein Gefühl von Verlorenheit, und doch kann und will ich ihn nicht aus der Pflicht seiner Täterschaft entlassen.
»Du hast also auch … hochgepuscht?«
»Ich habe nicht damit angefangen.«
»Nein?«
»Nein. Ich wollte bloß dazugehören.«
»Und dann?«
»Der Prediger. Er hat uns manipuliert. Er hat Gehirnwäsche mit uns betrieben. Ich habe das nie gewollt. Glauben Sie mir, Imam! Die anderen auch nicht.«
»Du bist kein Opfer«, sage ich, um hinterdrein zu denken: Du bist ein Täter. Ein Täter mit Ausrede. Wie alle anderen auch, die unverzüglich irgendwelche Ausreden ins Treffen führen. Doch das sage ich nicht, denn meine Aufgabe als Seelsorger besteht nicht in der Aburteilung von Straftätern (was ohnedies vor Gericht geschieht), sondern in der Aufgabe, die Menschen wie Musa die eigene Einsicht zu fördern, sie gezielt hinzuführen zu dem Wendepunkt, wo sie ein Einsehen haben, wo sie ihre Täterschaft begreifen, die Schwere ihrer Schuld erkennen und für sich anerkennen.
»Du selbst hast die Entscheidungen getroffen«, sage ich also. »Du selbst hast gehandelt. Du allein.«
Musa reagiert geradezu wehleidig. »Wieso sagen Sie das, Imam? Sie kennen meine Geschichte. Was bin ich sonst als ein Opfer?!«
»Sind denn immer bloß die anderen schuld, Musa?«
Manchmal hat Musa Tränen in den Augen. Es hat den Anschein, als überfordere ihn seine Rolle im syrischen Krieg in der Rückbeschau. Was ist er? Ein gnadenloser Mörder? Ein Hetzer? Dennoch: Meine Worte über den Koran, über Allahs Wunsch eines friedfertigen Miteinanders der Menschen aller Konfessionen und Hautfarben, fallen auf fruchtbare Erde bei ihm. Wiewohl ich mir bis zuletzt nicht sicher bin, wieweit dieser Same der Wiederkehr ins Gefüge einer demokratischen Gesellschaft und ihrer Werte in ihm gedeihen wird.
»Ich sehe in dir einen Menschen, der sich auf die Suche nach Allahs Vergebung begibt«, sage ich.
Dafür müsse er allerdings bereit sein, die Frage der Verantwortlichkeit aufzulösen. Er müsse sich bekennen zu dem, was er getan hat. Vor sich bekennen. Und natürlich vor Allah. »Nur wer echte Reue zeigt, dem vergibt Gott.«
Wenn du Reue zeigst, wird dir Allah vergeben. Das ist eine der Kernbotschaften, mit der ich in der JA Josefstadt arbeite. Vielleicht haben junge Männer wie Musa ihre Probleme damit, weil ein barmherziger Gott für sie so wenig greifbar ist, weil er dem widerspricht, was ihm und Seinesgleichen von klein auf als Gottesbild indoktriniert worden ist.
Nicht erst ein verführerischer, mit der Gewitztheit eines professionellen Schauspielers auftretender Prediger gibt Menschen wie Musa das Bild eines »Nur-Strafenden« Gottes ein.
Oftmals erfolgt dies bereits in frühester Kindheit – als schändlicher Auswuchs einer nach