Dachschaden. Marion Reddy
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Neurochirurgen nehmen ihre Umwelt einfach nicht wahr. Sie schreiten über sie hinweg. Jeder Neurochirurg muss der Beste sein. Er interessiert sich nie für andere Fächer. Er könnte nie Pathologe oder Urologe sein. Das wäre für ihn zu wenig Prestige. Er muss Hirnchirurg sein. Zur Not käme noch Herzchirurg infrage, aber Hirnchirurg ist besser. Den Schädel eines Menschen zu öffnen, der sich ihm ganz und gar anvertraut, und darin etwas zu tun, hat etwas Gottgleiches. Das trifft sich perfekt mit der Selbstwahrnehmung eines Neurochirurgen.
Der Neurochirurg glaubt an das Image seines Faches. Ein Eingriff in den Schädel, das klingt ja schon so interessant, und es hat auch etwas mit Nervenkitzel zu tun. Dazu kommt der Kick des Risikos, das Spiel mit den Schicksalen, die sich unter den eigenen Händen entscheiden. Das Gehirn ist mit Abstand das komplizierteste Organ, und wer einmal die topographischen Bilder des Gehirns, Bilder der Funktionsfelder und des Gefäßsystems gesehen hat, kann die Komplexität nur erahnen. Dazu kommt, dass das Nervengewebe sich nicht regenerieren kann. Dadurch ist es, wenn es einmal angekratzt ist, gleich immer irreparabel geschädigt, und der betreffende Patient kann nicht mehr sprechen oder ist vollkommen gelähmt. Das Gehirn ist nun einmal extrem fragil.
Die schwierigsten Fälle, die kompliziertesten Eingriffe und die längsten Operationen sind dem Neurochirurgen gerade gut genug, um sich zu beweisen und glänzen zu können. Der Neurochirurg sieht Patienten als Mittel zu diesem Zweck. Den Zugang vieler Ärzte, anderen Menschen helfen zu wollen, kennt er nicht. Ihn interessiert neben seiner Karriere im bestenfalls noch die Krankheit, aber sicher nicht der Mensch, der sie hat. Wenn sich ein Neurochirurg karenzieren lässt und unentgeltlich zum Beispiel in Vietnam operiert, dann ist das garantiert auch wieder nur eine Prestigesache. Auf Facebook zeigt er sich dann umgeben von lachenden, ehrerbietenden Kindern. Er darf dort den ganzen Tag operieren was er will, muss sich mit niemandem um die Operationen streiten und kriegt dabei Fälle zu sehen, die er in Europa in diesen Ausprägungen niemals vor das Mikroskop bekäme. Ein Paradies.
Die Bilder von den Fehlbildungen und Tumoren zeigt er dann bei internationalen Kongressen an der Riesenleinwand. Darum geht es ja, um die geilen Operationen, um die Ausbeute. Die vietnamesischen Patienten sind ihm ja in Wirklichkeit ebenso scheißegal, wie die in Europa. Und dann zeigt er noch haufenweise Bilder von sich selbst, dem kleinen, widerlichen, neurochirurgischen Fettsack, neben den dankbaren Kindern und Eltern. Ich könnte heute noch kotzen, wenn ich nur daran denke.
Alle anderen Neurochirurgen sieht er als Konkurrenten, denen er im Prinzip Operationen nur dann zugesteht, wenn er persönlich gerade nicht Dienst oder keine Zeit hat, weil er einen wichtigeren und prestigeträchtigeren Fall operiert.
Die Gedankengänge dabei sind simpel. Arzt ist schon mal super, denkt er sich, und inskribiert nach dem Schulabschluss Medizin. Unter den ärztlichen Berufen findet er Hirnchirurg richtig geil, weil das am meisten Prestige bringt, also entscheidet er sich dafür. Mit welcher Lebensqualität das einhergeht und welche Kollegen er kriegt, ist ihm egal. Das Defizit in seiner Persönlichkeit ist groß genug, um das alles in Kauf zu nehmen.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Doch die meisten Neurochirurgen sind Würstchen. Sie sind Männer, die schon als Kinder am Spielplatz die Verlierer waren, die grauen Mäuse, die immer Außenseiter sind. Eines Tages denken die dann, na wartet, euch werde ich es zeigen, irgendwann mache ich einen tollen Job und dann ändert sich alles.
Es ist schon komisch, dass die Neurochirurgen, die ich kenne, fast alle ziemlich klein sind. Klein und eigentlich hässlich. Traummänner gibt es auf der Neurochirurgie keine, die sind dort unmöglich zu finden. Ich glaube, ich hatte tatsächlich kaum richtig gut aussehende Kollegen. Weit entfernt von den Typen aus „Emergency Room” oder „Gray’s Anatomy”. Kein Wunder, die hätten die Neurochirurgie auch nicht nötig. Je kleiner der Penis desto größer und komplizierter muss der Tumor sein, den ein Neurochirurg rausschneiden will. Der Satz ist zwar alt, aber wohl wahr.
Neurochirurgen stehen auf Maturajubiläen. Die sind ihnen so wichtig, dass sie dafür sogar auf eine Prestige-Operation verzichten. Denn sobald alle davon reden, was denn so aus einem geworden ist, können sie endlich einmal richtig auftrumpfen.
Dass sie jetzt Neurochirurg sind, macht es für sie wieder gut, dass sie schon in der Sandkiste immer nur von den anderen in die Fresse gekriegt und in der Schule nie einen freiwilligen Sitznachbarn gefunden haben, von den Mädchen geschmäht und beim Fußball immer als letzter in die Mannschaft gewählt wurden. Das ist ja das Gemeine: Aus den Armen werden die Schrecklichen. Narzissten entstehen oft aus Mangel an Wertschätzung, Liebe und Bestätigung in der Kindheit, und sie merken es nicht, weil sie keinen Hang zur Selbstreflexion haben.
Es geht immer um ihr Ego, angefangen bei der Morgenbesprechung. Die beginnt mit dem Gezänk, wer wo am Besprechungstisch sitzt, am Kopfende mit direktem Blick auf den Monitor mit den Operationsbildern vom Vortag, oder auf der schmalen Bank zwischen den Zimmerpflanzen und dem Büroschrank, von der schon mal ein übermüdeter Kollege im Sekundenschlaf abstürzt. Es gab Ärzte, die sich gar nicht an den Tisch setzen wollten, entweder, um nicht mit solchen Leuten an einem Tisch zu sitzen, oder aus Angst, durch Beschimpfungen von jemandem vertrieben zu werden, dessen Platz sie zufällig besetzt hätten. Dass Neurochirurgen nicht hinpinkeln, um „ihren” Sessel zu markieren, grenzt schon an ein Wunder.
Ihr Ego schwächt allerdings das System: Eine Revolution in der Neurochirurgie war zum Beispiel das Medikament Gliolan. Wenn Patienten es vor der Anästhesie einnehmen, lässt es den Tumor während der Operation bei entsprechenden Lichtverhältnissen rot leuchten. Die Operateure erkennen dadurch noch genauer die Grenzen des Tumors und können so leichter gesundes von krankem Gewebe unterscheiden.
So gab es einen Lastwagen voll Literatur darüber, dass die Ergebnisse bei der Operation von Gehirntumoren unter Einsatz dieses Medikaments viel besser werden. Doch bei einer Tumoroperation mit Einsatz dieses Medikamentes muss ein Arzt zugegen sein, der die entsprechende Ausbildung zur Anwendung von Gliolan gemacht hat. Einer meiner Oberärzte hatte sie nicht absolviert und verweigerte den Einsatz des Medikamentes lieber, als Ärzten Zutritt zum Operationssaal zu gewähren, die ihm etwas voraus hatten. „Jeder Trottel sieht doch, wo die Grenzen eines Tumors sind“, meinte er lapidar. Dabei war gerade er einer von den neurochirurgischen Pfuschern, die mit ihrer bewährten „Staubsauger”-Technik immer viel zu viel gesundes Gewebe wegsaugten und dabei jede Menge neurologischer Defizite verursachten. Auch in seinem Fall hätte die Neurochirurgie dazu dienen sollen, mit den erbärmlichen Füßchen in die viel zu großen Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Doch die eigenen Fehler nehmen die Neurochirurgen nicht wahr. Ihrer Natur folgend ergötzen sie sich lieber an den Fehlern der anderen. Sichtbar wird so ein Fehler etwa, wenn während einer Operation Blut spritzt. Neurochirurgen ist ihre Zeit nie zu schade, sich den Videomitschnitt von der schlecht verlaufenen Operation eines Kollegen zu holen und sich die Bilder genüsslich anzusehen. Dabei rühren sie in ihrem Kaffee und murmeln vor sich hin. „Mein Gott, was für eine Sauerei.“ Oder: „Habt Ihr das gesehen? Da ging ja nun wirklich alles daneben.“
Einer, der beruflich in anderen Gehirnen herumstochert, ist sich irgendwann nicht mehr ganz sicher, was in seinem eigenen abgeht. Deshalb haben Neurochirurgen eine Tendenz zur Hypochondrie. Ich hatte einen Kollegen, der sich alle sechs Wochen eine Magnetresonanz machen ließ. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Alle sechs Wochen ein Schädel-MR. Einmal meinte er, er hätte ein Aneurysma, also eine Blutgefäßerweiterung. Wenig später vermutete er einen Tumor in seinem Schädel und dann wieder eine Gefäßmissbildung. Wir waren uns alle