Erziehung durch Beziehung. Rolf Arnold

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Erziehung durch Beziehung - Rolf Arnold

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Und kaum werden die nachdenklicheren Stimmen vernommen, die uns zu verstehen geben: »Erziehung war immer schon ein Thema!« Und: »Noch nie konnten alle Auswirkungen der Erziehung zuverlässig vorhergesagt werden!«

      Aus solchen nachdenklichen Feststellungen könnten alle, die mit ihrer Erziehung nicht mehr weiterwissen oder gar scheitern, viel Zuversicht schöpfen. So würden sie sich nicht mehr selbst unter Erfolgsdruck setzen, sondern könnten sich mit anderen austauschen und von ihren Niederlagen lernen. Allmählich könnten sie sich vom Machbarkeitswahn lösen und sich den Nachwachsenden wirklich zuwenden. Und sie würden verstehen, dass diese genauso anders und speziell sind, wie sie es dereinst gewesen sind.

      Der Abschied vom Machbarkeitswahn hilft uns, mit dem Widerspruch umzugehen, dass Erziehung zwar notwendig, in ihren Wirkungen aber nicht sicher kalkulierbar ist. Zu unterschiedlich sind die Kinder und Jugendlichen, und zu verschieden sind die Situationen, in denen sie leben. Immer wieder von Neuem rollt Sisyphos den Stein auf den Berg, nur um ihn hernach wieder hinabrollen zu sehen – lächelnd und nicht klagend (vgl. Müller 2016)!

      Das Versagen in Erziehungsfragen gehört zum Leben wie die Unvermeidbarkeit von Regen, Kälte oder drückender Hitze. Diese nehmen wir hin, ohne uns zu ärgern. Warum gelingt uns das nicht auch im Umgang mit den als schwierig empfundenen Kindern und Jugendlichen?

      So können dem provozierenden Verhalten eines Schülers ganz unterschiedliche Motive zugrunde liegen. Es gibt deshalb auch keine einfachen Erziehungsregeln nach dem Motto: »Man nehme …!« Dies gilt für einfache Erziehungsprobleme ebenso wie für extreme Situationen: Auch die gefährdete Jugendliche, die mit radikalen Weltanschauungen sympathisiert und zur Gewaltanwendung neigt, reagiert kaum auf deutliche Zurechtweisung oder drakonische Strafen. Und bekannt sind die eskalierenden Erziehungssituationen, die eher zu einer Verschlimmerung der Lage als zu deren Verbesserung führen.

      Erziehung kann zu Entziehung führen

      Cornelia berichtete in einem Seminar zu Erziehungsfragen:

       »Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Versuche, meinen Jungen ›von der schiefen Bahn‹ abzubringen, genau das Gegenteil bewirkten. Ich war wirklich engagiert als Mutter, das können Sie mir glauben, aber irgendwie führten die regelmäßigen Standpauken, Ausgehverbote oder meine permanente Unzufriedenheit dazu, dass mein Junge sich mehr und mehr zurückzog. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was er treibt und was in ihm vorgeht. Je mehr ich ihn erzog, desto mehr entzog er sich! Das ist die traurige Quintessenz meiner Erziehungsbemühungen!«

      Was ist zu tun, wenn die Gründe für Erziehungsprobleme vielfältig und die üblichen Reaktionen darauf eine unberechenbare oder gar gegenteilige Wirkung erzeugen? Müssen wir verzweifeln? Einfach nur das Unvermeidbare ertragen? Oder müssen wir aufgeben – unsere Vorstellungen und damit womöglich auch uns selbst? Die gute Botschaft ist: Nein!

      Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte haben immer die Möglichkeit, selbst aus Erziehungskonflikten auszusteigen, Eskalationsschleifen zu vermeiden und nach anderen Formen des Umgangs mit dem auffälligen Verhalten zu suchen.

      Eltern, Erzieherinnen und Erzieher können die einzige Möglichkeit nutzen, über die sie tatsächlich verfügen: Sie nehmen eine weniger grundsätzliche und voreilig bewertende Haltung ein. Dadurch verändern sie sich selbst mit dem Ziel, nicht nur ihren eigenen Blick auf das störende Verhalten zu verändern, sondern auch Neues in den Blick treten zu lassen. Damit tragen sie auch dazu bei, dem Kind, der Schülerin oder dem Zögling, wie man die zu Erziehenden früher gerne nannte, neue Möglichkeiten zu eröffnen. In seinem Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« beschreibt Robert Musil (1880–1942) sehr eindrucksvoll, zu welchen zerstörerischen Wirkungen eine grundsätzliche, vornehmlich kontrollierende, einschränkende und abwertende Erziehung letztlich zu führen vermag. Auch Rainer Maria Rilke (1875–1926) sieht sich am Ende seiner Militär-Oberrealschule

      »als ein Erschöpfter, körperlich und geistig Missbrauchter, verspätet sechzehnjährig, vor den ungeheuren Aufgaben meines Lebens (…), betrogen um den arglosesten Teil meiner Kraft und zugleich um jene, nie wieder nachzuholende Vorbereitung, die mir reinliche Stufen gebaut haben würde zu einem Anstieg, den ich nun, geschwächt und geschädigt, vor den steilsten Wänden meiner Zukunft beginnen sollte« (Rilke 1978, S. 352).

      Aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund auch das Gegenbild, das Rilke einer schwächenden und schädigenden Erziehung entgegensetzt, wie er sie selbst erlebt hat. Dieses tritt in seiner Besprechung des Buches »Das Jahrhundert des Kindes« der Schwedin Ellen Key (1849–1926) deutlich zutage. Darin schreibt Rilke:

      »Freie Kinder zu schaffen wird die vornehmste Aufgabe dieses Jahrhunderts sein. Ihr Sklaventum ist schrecklich und schwer; es beginnt, noch ehe sie geboren sind, und endet damit, dass sie schließlich Erwachsene und Eltern, das heißt wieder Unterdrücker von neuen Kindern werden. Wie die Verhältnisse heute liegen, kann man ruhig sagen, dass sowohl die guten wie die schlechten Eltern, sowohl die guten wie schlechten Schulen, Unrecht haben dem Kind gegenüber. Sie verkennen das Kind überhaupt, sie gehen von einer falschen Voraussetzung aus, von der Voraussetzung des Erwachsenen, der sich dem Kind überlegen fühlt, statt zu erkennen, dass es das Streben der größten Menschen war, dem Kinde in gewissen Augenblicken gleich und ebenbürtig zu sein« (Rilke 1902; zit. n. Kuhlmann 2013, S. 92).

      Entscheidend ist demnach das Bild, das wir von den Kindern und Jugendlichen in uns tragen. Halten wir sie für das unfertige »Material« – ein Begriff, der in den Erziehungsdebatten tatsächlich Verwendung fand und findet – oder sind sie für uns nur kleinere, aber vollwertige Menschen, denen wir grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen möchten?

      Bereits diese Überlegung ist geeignet, Erstaunen oder gar Kopfschütteln in uns auszulösen. Sie führt uns aber auch zu den tiefsten inneren Bildern, die unseren Blick auf die Nachwachsenden prägen. Nur auf den ersten Blick scheint es um Macht zu gehen: Die Großen und Starken bestimmen, was richtig und angemessen ist – eine Haltung, die vielleicht dereinst angemessen war, die heute aber vielfach ins Wanken geraten ist. Damals, als man noch genauer absehen konnte, wie sich die Zukunft für die Nachwachsenden darstellen würde, mochte diese Haltung noch von Fürsorge getragen worden sein. In Zeiten, in denen die Erwachsenen zunehmend selbst nicht wissen können, was die Zukunft bringen wird, verliert diese Haltung viel von ihrer ursprünglichen Substanz – diese Einsicht ermöglicht einen zweiten Blick auf die Erziehung. Nicht selten schrumpft die Erziehung auf eine bloße Anmaßung, mit der Erziehende oft verzweifelt um Geltung bei den Nachwachsenden ringen, ohne irgendeine oder nur mit geringer Wirkung.

      Es gibt keine Tipps, um beim Nachwuchs genau die Wirkungen zu erzielen, die man sich wünscht. Es gibt lediglich Regeln, die einem helfen können, eine wirksamere Beziehung zu gestalten. Dabei setzt die Veränderung bei uns selbst an. Der Erziehungsstrahl, den Erziehende auf ihre Kinder richten, krümmt sich dabei und nimmt uns selbst in den Blick. Durch Selbstreflexion und nüchterne Beobachtung der Wirkungen, die wir tatsächlich mit unseren Aktionen erzielen, können wir unser eigenes Erziehungsverhalten verändern und dadurch in eine neue Beziehung zu unseren Kindern gelangen.

      Die erste Lektion auf dem Weg zu einer solchen – neuen – erzieherischen Wirksamkeit lautet deshalb:

      Wenn Sie merken, dass Ihre Erziehungsmaßnahme nicht greift, lassen Sie sie sein. Wenn Sie merken, dass etwas funktioniert, machen Sie mehr davon!

      Erziehungsverantwortliche, die diese Lektion beherzigen, lösen sich von der lange geforderten Entschiedenheit und blicken klar und nüchtern auf die Wirksamkeit ihrer Aktionen und Reaktionen. Sie haben sich von ihrer Wut gelöst und begonnen, ihre Erziehungsarbeit als einen entwicklungsförderlichen Service für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu verstehen. Denn diese sind nicht in erster Linie dafür da, ihnen keine Sorgen zu bereiten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, heranzuwachsen

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