Mit anderen Augen. Peter Brandt L.

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Mit anderen Augen - Peter Brandt L.

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zweiten Grades, einer Cousine der Großmutter, die als Krankenschwester in der Schweiz lebte und uns gelegentlich besuchen kam, Vaters Hamburger Cousine Erika, aus den Großeltern, Willys Halbbruder Günter und dem Pflegekind Waltraud. Auch Waltraud und Günter lebten, bereits erwachsen, in Lübeck zunächst in dem kleinen, sehr einfachen Haus der Großeltern (Außentoilette im Stall). Doch es gab auch einen großen Obst- und Gemüsegarten, mit Hühnern und zeitweise auch ein oder zwei Schweinen – in der frühen Nachkriegszeit ein Schatz. Er gab fast alles her, was zur Ernährung benötigt wurde.

      Günter arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Vollzugsbeamter in einer Strafanstalt. Die beiden hatten kein enges, aber ein gutes Verhältnis. Onkel Günter erzählte, sie hätten manchmal viel Spaß zusammen gehabt. Willy, der eigentlich nicht mehr rauchen sollte, hat sich mit ihm in seine Wohnung zurückgezogen, und dann wurde stundenlang lustvoll gequalmt, denn Günter frönte demselben Laster. Es war eine Art Rauchverschwörung.

      Oma und Opa standen bei Lars und mir in höchstem Ansehen: Sie, Martha, war eine liebe und herzliche, doch unsentimentale Frau, bei der ich 1955 gern meine ersten Schulsommerferien verbrachte. Er, Emil, war ein gütiger und bärenstarker Mann, mit spezifischem Humor. Bis zu seinem 76. Lebensjahr arbeitete er als Maurerpolier auf dem Bau. Selbst danach half er Bekannten und Nachbarn, mauerte ihnen Garagen und mehr. Martha und Emil Kuhlmann waren schon vor 1933 Sozialdemokraten und wurden nach Hitler wie selbstverständlich wieder in der SPD und der Gewerkschaftsbewegung aktiv. Dass Opa nicht der leibliche Groß­vater war, wusste ich irgendwann irgendwie, aber es interessierte mich nicht.

      Einmal im Jahr wurde gefeiert: Opa hatte Geburtstag, und wir reisten an. Das Haus quoll über von Gästen aus der Nachbarschaft und der Arbeiterbewegung, ergänzt um die kleine Verwandtschaft. Lebhaft erinnere ich mich an Opas Achtzigsten. Bei diesen Festen wurde hauptsächlich gesungen: Volks- und jugendbewegte Lieder, Arbeiter- und Spottlieder, und der Ehemann von Vaters Cousine Erika, der Arzt Walter Moritz, der als Student wohl einer schlagenden Verbindung angehört hatte, erweiterte dieses breite Repertoire noch um das Liedgut des »Deutschen Kommersbuchs«. Natürlich gab es reichlich feste und flüssige Nahrung. Bier und Schnaps flossen in Strömen. Vielleicht hat sich mein Vater, wie Mutter in ihrem Erinnerungsbuch berichtet, tatsächlich bei manchen Unterhaltungen mit Oma und Opa gelangweilt, weil ihm die Mitteilungen nichts sagten oder allzu kleinkariert vorkamen. Bei Opas Geburtstagen fühlte er sich jedoch unverkennbar wohl und genoss das fröhliche, unverkrampfte Gemeinschaftserlebnis. Beide Großeltern starben kurz hintereinander im Jahr 1969.

      Willy Brandt hielt seine Mutter stets in Ehren und ließ nichts auf sie kommen. Er fand, dass er ihr – trotz der ungünstigen Umstände seiner Kindheit – manches verdankte, so zum Beispiel seine Beharrlichkeit. Auch scheint sie ihm von Anfang an viel zugetraut und ihn so zumindest indirekt bestärkt zu haben. Lübeck blieb er emotional verbunden. Und der vorletzte Auftritt in jedem Wahlkampf fand während der sechziger und frühen siebziger Jahre stets in Lübeck statt – der letzte, rein symbolisch, in Berlin. Willy hielt nicht nur regen Briefkontakt zur Mutter, sondern schickte in den äußerst kargen Nachkriegsjahren regelmäßig Päckchen. An deren Stelle trat dann später eine finanzielle Unterstützung. Als die Großeltern gestorben waren, verzichtete er zugunsten von Günter komplett auf sein Erbteil. (Merkwürdigerweise konnte er das für seine ebenfalls bedachten Söhne gleich mittun, die sicher nichts dagegen gehabt hätten, aber der Einfachheit halber gar nicht erst gefragt wurden.)

      Man kann Willy, der für seine Mutter immer »Herbert« blieb, im Verhältnis zu ihr nichts vorwerfen. Dennoch: Auffällig, und für mich schon als Kind erkennbar, war die emotionale Befangenheit zwischen Mutter und Sohn. Der briefliche und mündliche Austausch war ziemlich nüchtern. Martha zeigte Mutterliebe und Mutterstolz auf ihre Art, wenn sie bei Besuchen in Lübeck dem erfolgreichen Spross das größte und beste Stück des Festtagsbratens auftat.

      Viel zahlreicher als die väterliche Lübecker Verwandtschaft war die mütterliche norwegische. Willy wurde widerspruchslos eingemeindet. Ruts Vater starb, als sie noch ein kleines Kind war, und auch von der 1955 relativ jung verstorbenen Großmutter habe ich kaum noch ein Bild vor Augen. Drei Schwestern meiner Mutter, daneben etliche Vettern und Cousinen, bildeten mit den jeweiligen Ehepartnern und Kindern eine beachtliche Schar. Bei Urlauben in Norwegen ergaben sich daraus Verpflichtungen, die Vater mit zunehmendem Alter etwas lästig wurden: nicht, dass er die Schwägerinnen und Schwippschwäger nicht gemocht hätte. Aber es war doch ziemlich viel Verwandtschaft. Als Erwachsener konnte ich das nachvollziehen. Gesprächsstoff ergab sich am ehesten mit Arthur Martinsen, dem Mann von Ruts Lieblingsschwester Tulla, die eigentlich Martha hieß. Arthur war außenpolitischer Redakteur der sozialdemokratischen Regionalzeitung Hamar Arbeiderbladet und ein autodidaktisch gebildeter, hilfsbereiter Mann, der allerdings bisweilen ein wenig penetrant sein konnte. Willy und Arthur kannten sich schon aus dem Stockholmer Exil.

      Die häusliche Verkehrssprache war die ersten Jahre Norwegisch: Die Eheleute hatten sich in dieser Sprache kennengelernt, und außerdem hatte es Vater, der ungewöhnlich sprachbegabt war, während der dreißiger Jahre zu einer absoluten Perfektion im Norwegischen gebracht, während Mutter sich lange mit dem komplizierteren Deutschen schwertat, insbesondere mit der Grammatik. Während die Eltern untereinander überwiegend bei Norwegisch blieben, setzte sich bei meinem Schulbeginn 1955 Deutsch als Familiensprache durch. Denn aus welchen tiefenpsychologischen Gründen auch immer – von da ab weigerte ich mich, zu Hause Norwegisch zu sprechen, obwohl ich die Sprache meiner Mutter fließend beherrschte, in Norwegen auch künftig gern benutzte und vorher keine Schwierigkeit gehabt hatte, zwischen den beiden germanischen Sprachen hin- und herzu­wechseln.

      Mir ist verschiedentlich kolportiert worden, Vater hätte sich so gut wie gar nicht um seine Kinder gekümmert. Für die schulischen Angelegenheiten stimmt das weitgehend. Ich bin nicht sicher, ob er jemals einen Elternabend besucht hat. Allerdings kam er, wenn es sich einrichten ließ, zu musikalischen oder schauspielerischen Aufführungen, an denen die Söhne beteiligt waren. Vermutlich hat Mutter ihn gedrängt. Diese Enthaltsamkeit erklärt sich so: Erstens hatte er tatsächlich wenig Zeit, und jedermann verstand das. Zweitens hatte er wohl auch wenig Lust. Drittens hielt ihn zu Recht die Sorge ab, jede seiner Äußerungen und Interventionen könnte falsch verstanden werden. Nur einmal griff er ein, als ein als tyrannisch gefürchteter Lehrer mir wegen eines spontan zum Banknachbarn geflüsterten Kurzkommentars eine Strafarbeit aufbrummte, die mich nach den bis zum frühen Abend dauernden regulären Hausaufgaben noch weitere Stunden beschäftigt hätte. (Die Strafen steigerten sich im Verlauf der Unterrichtsstunde, ungeachtet der Schwere des Vergehens.) Da beschloss Vater, mich von der Strafarbeit zu suspendieren und dem Lehrer einen höflichen und nicht unfreundlichen, aber deutlich kritischen Brief zu schreiben. Während er den von mir übergebenen Brief las, verspannten sich die Gesichtszüge des Pädagogen, und er erklärte, jetzt keine Strafarbeiten, sondern nur noch Rügen, Tadel und schlechte Noten zu vergeben. Von alledem teilte er ohnehin reichlich aus. Nach einigen Wochen war der »gute Vorsatz« aber wieder vergessen.

      Wenn ich an unser Familienleben zurückdenke, kann ich das Verdikt der Vernachlässigung durch den Vater nicht bestätigen. Dabei fällt sicher ins Gewicht, dass er in den fünfziger und frühen sechziger Jahren noch recht jung war und die berufliche Tätigkeit ein halbwegs normales Leben ermöglichte. Für Matthias war das in der Bonner Zeit wohl anders. Er erlebte den Vater als »emotional behindert«. Gewiss war Vater vergleichsweise wenig zu Hause. Außer Sonntagmittag fanden die Mahlzeiten ohne ihn statt. Und selbst sonntags mussten wir manchmal stundenlang auf ihn warten. Manchmal wurde das Essen mehrmals aufgewärmt, bis er endlich doch eintraf. Für den Fall, dass er zu einer zivilen Zeit heimkam, hatte er stets Arbeit dabei. Ich war als Kind und Jugendlicher davon fasziniert, dass er, so schien es jedenfalls, gleichzeitig Abendbrot essen, fernsehen, einen Text entwerfen und sich unterhalten konnte.

      Er war sicherlich nicht das, was man einen Familienmenschen nennt. Und die Anwesenheitszeiten zu Hause waren in seinem Fall besonders knapp bemessen. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Vermisst habe ich hauptsächlich die ausschweifenden Erzählungen der anderen Väter vom Krieg, wo sie sich je nach Temperament und Einstellung heldenhaft

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