Misstrauen. Florian Mühlfried
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Sowohl die Trennung der Ebenen als auch die Investition in das Verbergen von Misstrauen erfordert Anstrengung. Deshalb ist Misstrauen, wie auch von den Anhängern der Theorie der rationalen Entscheidung (aber aus anderen Gründen) behauptet, kostenintensiver als Vertrauen. Für manche gehören diese Anstrengungen zum Beruf. Ein Diplomat beispielsweise muss sich in der Fähigkeit schulen, mit doppelter Zunge zu sprechen und hinter den Worten zu lesen.
Der passive Modus der misstrauischen Abwendung zeigt sich in der Haltung des lieber nicht. Im Gegensatz zur oben genannten Strategie soll Engagement hier abgewendet werden – allerdings nicht um den Preis des offen gezeigten Misstrauens, denn dieses könnte Konflikte (und damit wieder Engagement) nach sich ziehen. Wenn möglich, soll der Kontakt zum Objekt des Misstrauens vermieden werden, ohne für Aufsehen zu sorgen; man macht einem Fremden lieber nicht die Tür auf und tut so, als wäre man nicht zu Hause. Man geht lieber kein Geschäft ein, unter dem Vorwand, man sei zu beschäftigt. Man plant lieber keine Projekte, weil man sich angeblich um den kranken Vater kümmern muss. Existentielle Unsicherheit verschärft sowohl Misstrauen als auch die Tendenz zur Vermeidung.
Der neutrale Modus des Misstrauens findet im Vorbehalt seine Form, was bedeutet, dass nicht alle Gefühle, Gedanken oder Dinge geteilt werden. Dieser Vorbehalt unterlegt die Art und Weise, sich in der Welt zu bewegen – weder teilnahmslos noch vollkommen überzeugt. Ein solcherart eingestellter Mensch wirkt auf andere »reserviert«. Auf der einen Seite ist diese Haltung als eine Absicherungsstrategie zu verstehen: Ein möglicher Verlust, mit dem immer gerechnet wird, soll minimiert werden. Auf der anderen Seite ermöglicht dieser Modus dennoch, sich an Interaktionen zu beteiligen, wenn auch auf Sparflamme.
Integriert man diese Modi in die Skalierung des Misstrauens, ergibt sich folgendes Bild:
Die Praxis des Misstrauens unterscheidet sich also durch offene und verdeckte sowie zentripetale und zentrifugale Formen. Sowohl zentripetales als auch zentrifugales Misstrauen sind erkennbar; die anderen, weiter verbreiteten Praktiken des Misstrauens werden unter einer Oberfläche verdeckt und zeigen sich aktiv als Engagement oder passiv als Vermeidung.
Worum es geht
In den folgenden Kapiteln soll das Spektrum des Misstrauens in seinen jeweiligen Facetten ausgeleuchtet werden. Das zweite Kapitel beschreibt offen gezeigtes Misstrauen, das zentripetal ins Innere von Gesellschaft und Politik wirken soll. Auch nach dessen politischer Akzeptanz und Relevanz wird gefragt. Wie viel Misstrauen kann Demokratie vertragen? Und was passiert, wenn Misstrauen verdrängt wird?
Das dritte Kapitel behandelt verdeckte Formen des Misstrauens anhand verschiedener Beispiele des Umganges mit Fremden. Manchmal nimmt in diesem Kontext das Misstrauen feindselige Züge an und äußert sich in Abwendung (passiver Modus), manchmal unterfüttert es einen Modus der doppelbödigen Interaktion (aktiver Modus). Letztere kann als eine Form von Gastfreundschaft verstanden werden, mit der ungefragt erscheinende Fremde domestiziert und damit ihrer Gefahr beraubt werden sollen. Am Beispiel der Praxis von Gastfreundschaft in Georgien wird ausgeführt, wie Misstrauen im Verborgenen wirken kann, während es von einem schönen Schein verdeckt wird.
Im vierten Kapitel geht es erneut um eine offene Form von Misstrauen, die allerdings nicht in die Gesellschaft hineinwirken, sondern sich von dieser lösen will, die also zentrifugal wirkt. Beispiele für solch radikale Misstrauenskulte sind die Mafia, der Islamische Staat (IS) oder faschistische Gruppierungen. Im Zentrum des fünften Kapitels steht eine abschließende Bewertung des Potentials und der Risiken von Misstrauen.
Das Fallmaterial stammt überwiegend aus westlichen Gesellschaften, wird hier jedoch durch Beispiele aus der ehemaligen Sowjetunion ergänzt, um eine breitere Perspektive auf das Phänomen Misstrauen zu ermöglichen. Damit einher geht die Absicht, aktuelle Diskussionen um die Verfasstheit unserer Gesellschaft um eine ethnologische, also kulturvergleichende Perspektive anzureichern. In den letzten Jahrzehnten hat sich die deutschsprachige Ethnologie aus solchen Diskussionen – mit Ausnahme der Debatten um Migration, Multikulturalität und (neuerdings) Terrorismus – weitgehend herausgehalten. Dabei galt die Ethnologie einst intellektuellen Impulsgebern wie Jacob Taubes (1923–1987) neben der Geschichte und der Philosophie als Kerndisziplin der Theoriebildung. Der Versuch, die ethnologische Perspektive wieder ins Spiel zu bringen, ist zugleich ein Versuch, aktuelle Themen nicht aus der Mitte eines Faches heraus, sondern vom Rande her zu denken – dort, wo sich Anschlüsse herstellen lassen.
2. Die emanzipatorische Kraft des Misstrauens*
Im September 2017 besuchte ich eine Konferenz an der Staatlichen Universität der kasachischen Hauptstadt Astana und sollte am letzten Konferenztag einen Vortrag über Dschihadismus halten. Der Veranstaltungsraum war mit allerlei Hightech ausgerüstet. Ein armenischer Kollege wies mit dem Zeigefinger auf eine Kamera, die im Hintergrund lautlos vor sich hin schwenkte. Mal drehte sie hierhin, dann dorthin, die Intervalle waren nicht genau zu bestimmen, auch nicht, wer oder was jede Fokussierung veranlasste. Ich probierte mit Geräuschen oder Gesten die Kamera auf mich zu ziehen – mal gelang es, mal nicht, ich konnte keine Regelmäßigkeit entdecken. Nun sah ich auch die acht Mikrophone, die von der Decke hingen, sowie eine weitere Kamera auf der Stirnseite des Raumes. Mein Misstrauen war geweckt.
Ich sprach die Veranstalter an und fragte nach: Was wird aufgenommen, und von wem? Werden die Aufnahmen gespeichert? Wer hat zu ihnen Zugang? Keiner wusste es genau, man wollte sich erkundigen. Allerdings konnte nichts Genaues in Erfahrung gebracht werden. In dem Raum zu bleiben, war für mich keine Option, und so schlug ich vor, die Konferenz in einen anderen Raum zu verlegen. Ein Ausweichraum war jedoch nicht verfügbar.
Da eine (meiner Meinung nach unabdingbare) allgemeine Diskussion über den Umgang mit der Situation ausblieb, entschied ich mich, die Auseinandersetzung zu forcieren: Ich würde meinen Vortrag nur dann halten, wenn die Objektive der Kameras überklebt würden. Die Veranstalter hielten dies für undurchführbar und boten mir an, meinen Vortrag in der Hotellobby zu halten. Das klang nach Kapitulation, und ich trug mich mit dem Gedanken, die Konferenz zu verlassen. Mein Misstrauen legte mir nahe, die Beziehungen abzubrechen und mich zu entfernen – wie es so häufig passiert, wenn Misstrauen kein Gehör findet.
Aber ich blieb, weil ich einen anderen Weg für mein Misstrauen finden konnte: es in den Mittelpunkt zu stellen. Kurzerhand änderte ich das Thema meines Vortrages, allerdings ohne das anzukündigen. Ich improvisierte, setzte mich unter Druck, löste mich von dem Vorbereiteten. In dieser Suche nach alternativen Wegen als Auswegen zeigt sich Misstrauen von seiner explorativen Seite. Erst dann, wenn diese Suche ergebnislos verlaufen ist, bleibt nur noch die Flucht.
Mein Vortrag begann mit einer Enttäuschung für diejenigen, die sich auf das Thema Dschihadismus eingestellt hatten. Um zu begründen, warum ich über Misstrauen reden wollte, zeigte ich Fotos des Seminarraums, die ich tags zuvor aufgenommen hatte. Nach einiger Zeit lösten sich die Blicke der Zuhörer von den Kameras und Mikrophonen auf den Bildern und richteten sich auf die Kameras und Mikrophone im Raum.