FreiSinnig. Kristina Schröder
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Unsere Maßstäbe sind verrutscht, dies empfinde ich spätestens seit Mai 2020 so. Und ich habe die Sorge, dass dies Folgen lange über die Pandemie hinaus haben wird. Denn Instrumente, deren Einsatz bisher in freiheitlichen Rechtsstaaten kaum vorstellbar waren, liegen jetzt nicht nur auf dem Tisch, sondern kamen zum Einsatz. Wir wissen, dass sie in einem gewissen Maß funktionieren und vor unseren Verfassungsgerichten weitgehend bestehen. Und dass eine stabile Mehrheit der Deutschen ihre Anwendung in einer krisenhaften Lage befürwortet, viele sogar ein noch härteres Vorgehen fordern. Dieses neue Bewusstsein wird, fürchte ich, so schnell nicht wieder weggehen.
Umso bemerkenswerter, dass über die entscheidende Frage dieser Pandemie kaum gesprochen wird: Haben wir, alles zusammengenommen, mit unseren Maßnahmen zur Bekämpfung wirklich insgesamt mehr Schaden verhindert als verursacht?
Ich halte es für denkbar, dass der Schaden überwiegt, vor allem bei einer längerfristigen Betrachtung. Und eine Betrachtung der weltweiten Praxis der Pandemiebekämpfung, die ja einem gigantischen Versuchsaufbau entspricht, das gleiche Virus mit unterschiedlichen Methoden zu bekämpfen, verstärkt meine grundlegenden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit unseres deutschen Weges.
Als medizinischer Laie, der lediglich über statistisches Fachwissen verfügt, habe ich den Eindruck, dass überall der Löwenanteil der Dämpfung des Infektionsgeschehens auf die Anwendung der AHA-Regeln zurückgeht, auf Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken. Hinzu kommt wohl der Verzicht auf Großveranstaltungen, wobei mir hier nur die in Innenräumen insgesamt relevant zu sein scheinen. Allein diese Maßnahmen, die die Menschen weltweit, ob staatlich vorgeschrieben oder nicht, inzwischen weitgehend internalisiert und habitualisiert haben dürften, scheinen mir gegen eine wirklich unkontrollierte Durchseuchung entscheidend gewirkt zu haben.
In den darüber hinaus geltenden Maßnahmen gingen die Länder uneinheitliche Wege: Manche schlossen den Einzelhandel, manche nicht, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren wurden in sehr unterschiedlichem Maß verhängt und auch beim umstrittensten Punkt, den Schulschließungen, unterschied sich das Vorgehen der Länder Europas mit fortschreitender Pandemie immer stärker. Spanien und die Schweiz beispielsweise ließen die Schulen in der zweiten und dritten Welle komplett offen, in Deutschland waren sie insbesondere für die Mittelstufe viele Monate lang geschlossen. Wenn ich mir diese Maßnahmen anschaue, in denen sich die Länder weltweit unterscheiden, kann ich beim besten Willen kaum einen systematischen Zusammenhang mit Erfolgen in der Pandemiebekämpfung erkennen. Ihr Anteil an der Dämpfung des Infektionsgeschehens scheint mir bestenfalls ein geringer zu sein. Aber natürlich sind sie es, die je nach Qualität und Quantität die verheerenden Schäden psychischer, gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Art angerichtet haben.
Das angemessene Alternativszenario, mit dem wir unseren deutschen Weg harter und lang anhaltender Maßnahmen vergleichen sollten, ist daher keines, in dem das Virus einfach völlig ungebremst durchläuft, wie es von Anhängern eines strikten Kurses immer wieder drohend an die Wand gemalt wird. Ebenso wenig macht es Sinn, unseren Weg mit einer Welt ganz ohne Corona zu kontrastieren, wie es von vielen Maßnahmenkritikern immer wieder versucht wird. Sondern die Frage ist, wie unser deutsches Maßnahmenpaket abschneidet im Vergleich mit einem Szenario, in dem die AHA-Maßnahmen konsequent gelten und auf Großveranstaltungen verzichtet wird, Einzelhandel, Gastronomie und Schulen aber offen sind und keine strikten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gelten.
An dieser Stelle beginnt die Abwägung – und die Wertung. Relativ leicht ist es dabei noch, Kranke gegen Kranke, Tote gegen Tote abzuwägen. Ein Mensch, der an Covid-19 stirbt, wiegt genauso schwer wie einer, der an einem Herzinfarkt stirbt, weil er sich wegen des Lockdowns nicht in die Klinik getraut hat, oder wie einer, der sich umbringt, weil er vor den Scherben seiner Existenz steht. Und eine lebenslange gesundheitliche Folge aufgrund einer schweren Corona-Infektion muss ähnlich ernsthaft betrachtet werden wie diagnostizierbare Langzeit-Beeinträchtigungen eines Jugendlichen, der nach über einem Jahr, in dem ihm sämtliche Sportangebote in Schule und Freizeit verwehrt wurden, nie wieder zum Sport zurückfindet und daher vielleicht lebenslang mit Übergewicht und all dessen Konsequenzen zu kämpfen hat.
Aber was ist mit den anderen schwerwiegenden Folgen? Was zählt der Verlust von bis zu neun Monaten gemeinschaftlicher Schulzeit für Millionen von Kindern und Jugendlichen? Was zählt der sprunghafte Anstieg schwerer psychischer Erkrankungen insbesondere bei Jugendlichen? Was zählen ökonomische Wohlstands- und Existenzverluste, die Geschäfte und Restaurants, die nie wieder aufmachen? Was zählt der Verlust an kulturellem und sozialem Leben, der Männerchor, das Stadtteilfest, das Angebot zum Kinderturnen, die nach über einem Jahr Zwangspause oft schlicht nicht mehr existieren? Was zählen die Depressiven, die Abhängigen, die Gewaltopfer, deren Leid im häuslichen Elend meist noch schlimmer geworden sein dürfte?
Jede Antwort darauf ist subjektiv, hängt unmittelbar von individuellen Wertüberzeugungen ab. Ich persönlich neige dazu, diese gesamtgesellschaftlichen Folgen als langfristig schwerwiegender zu bewerten – zumal ich der Überzeugung bin, dass sich wesentliche Infektionsgefahren auch mit milderen Mitteln wie Luftreinigungsgeräten, dem früheren und gezielteren Einsatz von Schnelltests oder einer nicht durch einen geradezu paranoiden Datenschutz kastrierten App hätte wirkungsvoll eindämmen lassen. Aber selbstverständlich kann man hier begründet auch die gegenteilige Auffassung vertreten.
Was mich aber nachhaltig irritiert hat, war der in Politik und Wissenschaft verbreitete Versuch, zu negieren, dass wir es hier überhaupt mit notwendigen Abwägungen zu tun haben. „Das darf man nicht gegeneinander aufrechnen“, lautet die wohlfeile Variante dieses Arguments, das gnadenlos ignoriert, dass unser ganzes Leben aus Abwägungen dieser Art besteht, ohne die wir gar nicht handlungsfähig wären.
„Das Virus diskutiert nicht“ oder „Hört auf die Wissenschaft“, lautete der autoritärer daherkommende, aber gleichwohl durchschaubare Versuch, aus einer Tatsachenaussage ein Werturteil abzuleiten. Auch Sandra Cieseks Tweet aus dem April 2021 „Wenn wir als Ärzte klar gegen Evidenz handeln, hat das massive Folgen. Wenn dies Politiker tun, ist das egal?“, der über 22 000-mal geliked wurde, gehört in diese Kategorie. Für politische Werturteile gibt es keine Evidenz. Gäbe es sie, könnten wir uns den ganzen Aufwand unserer Demokratie sparen. Denn dann könnte man ja genauso gut mit wissenschaftlichen Methoden berechnen, was zu tun ist. Anhänger der Idee von „Expertenregierungen“, Verächter des politischen Streits (man solle doch stattdessen einfach mal das „Vernünftige“ tun) und die guten alten „Parteienkritiker“ tendieren zwar immer wieder in diese Richtung, kommen aber nie um das alte Problem herum: Wer legt denn dann fest, was die angebliche Volonté générale ist, wenn nicht demokratisch legitimierte Volksvertreter?
Aus Tatsachenaussagen lassen sich keine Werturteile ableiten. Der naturalistische Schluss bleibt ein Fehlschluss, auch in der Pandemie. Man kann von jeder einzelnen wissenschaftlichen Aussage aus über 100 Folgen Podcast mit Christian Drosten und Sandra Ciesek überzeugt sein – und dennoch auf der Ebene der Maßnahmen mit vielen guten Gründen auch einen anderen als den in Deutschland gewählten Weg für human, vernünftig und erfolgversprechend halten.
Denn zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen gibt es einen kategorialen Unterschied: Max Webers Schriften zum Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft ist meines Erachtens im Kern bis heute wenig hinzuzufügen. Tatsachenaussagen