FreiSinnig. Kristina Schröder
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Dabei hatten unsere Kinder noch Glück, denn sie sind noch keine Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mein Eindruck ist, dass – neben den besonders betroffenen Branchen – sie es waren, die am härtesten unter den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu leiden hatten. Denn was ihnen über bisher 16 Monate genommen wurde, ist eigentlich alles, was diese Lebensphase für die meisten Menschen zur prägendsten ihres Lebens macht: Das Theaterstück, das eine Klasse über Monate einstudiert und im Rahmen des Schulfestes vorführt. Das Betriebspraktikum in der nächsten größeren Stadt. Das gemeinsame Training, auf dem Bolzplatz oder in der Schwimmhalle. Die Oberstufenfahrt nach Berlin oder Rom. Die Feier des Schulabschlusses. Das Jahr im Ausland, das viele seit Jahren geplant und herbeigesehnt hatten. Die Erstsemesterpartys, auf denen nicht selten Freundschaften fürs Leben entstehen. Die erste Vorlesung, bei der ein wortgewaltiger Prof mit Begeisterung und Hingabe die grundlegenden Fragen seines Fachs skizziert. Die Lerngruppe, die sich in der Seminarbibliothek findet, die sich gegenseitig durch Strafrecht I, Produktion und Absatz II und Statistik III bringt und selbst die eine oder andere tragische Liebesgeschichte in ihren Reihen übersteht.
Überhaupt, die Liebe in Zeiten von Corona. Wer sie noch nicht gefunden hat, wie die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, für den dürften die zäh, aber unnachgiebig verstreichenden Monate der Pandemie besonders bitter gewesen sein. Im Klassenchat oder mit Tinder auf ihrem Bett liegend verbrachten viele Jahrgänge Abend für Abend einer Lebensphase, von der ihnen Ältere oft mit glänzenden Augen erzählen, dass es die schönste im ganzen Leben sei.
Natürlich, was ist das alles schon gegenüber dem Verlust von Gesundheit, gar von Leben? Weniger, eindeutig. Aber wiegt es so gering, dass es von Politik und Gesellschaft dermaßen weitgehend ignoriert werden darf? Wenn Jüngere all diese meist unwiederbringlich verlorenen Erfahrungen auch nur thematisierten, wurde ihnen oft beschieden, sie sollten sich nicht so anstellen. Damals im Krieg habe man auch auf vieles verzichten müssen. Gleichzeitig wurde im Frühling 2021 lange vor den Öffnungen der Schulen beschlossen, dass Friseure ihre Salons wieder aufschließen dürfen – natürlich wie bei fast jeder Öffnung unter Inkaufnahme eines gewissen Infektionsrisikos. Dies sei auch „eine Frage der Würde älterer Menschen“, so hieß es einfühlsam in der Pressekonferenz nach der Sitzung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten. Nur ein bisschen von dieser Empathie gegenüber den Bedürfnissen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land wäre schon schön gewesen. Und angebracht.
Zumal auch die Pubertät eine Lebensphase hoher Vulnerabilität ist, nämlich psychischer Art. Große systematische Studien fehlen noch, aber aus Berlin und Tübingen hören wir, dass sich die Einweisungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der zweiten und dritten Welle fast verdoppelt haben. Depressionen, Schlafstörungen, Phobien, suizidale Gedanken und besonders Essstörungen nehmen in Deutschland nach übereinstimmenden Berichten aus der Praxis bei Jugendlichen deutlich zu.
Und dann sind da noch die Kinder und Jugendlichen, die gar kein sicheres Zuhause haben. Die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité verzeichnet im ersten Halbjahr 2020 rund 23 Prozent mehr Fälle als im Jahr zuvor, festgestellt wurden insbesondere schwere Verletzungen wie Knochenbrüche oder Würgemale. Laut polizeilicher Kriminalstatistik stieg 2020 die Zahl der vorsätzlich oder fahrlässig getöteten Kinder in Deutschland um rund ein Drittel auf 152 Fälle an.
Bei aller Vorsicht vor monokausalen Erklärungsmustern: Es spricht viel dafür, dass einige dieser Kinder ohne die Lockdowns noch leben könnten, viele hätten vermutlich weniger brutale Gewalt erfahren. Und auch die zusätzlichen schweren psychischen Erkrankungen wie Depression und Essstörungen werden viele Betroffene ihr Leben lang nicht mehr loswerden oder sogar daran sterben: Magersucht etwa endet in zehn bis 15 Prozent der Fälle mit dem Tod. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es bei der Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen eben nicht um Kosten lediglich ökonomischer Art geht, die dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit gegenüberstehen, wie es oft bewusst simplifizierend dargestellt wird. Sondern die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie führten teilweise ihrerseits zu anderen Gefahren für Leib und Leben. Ein Leben, das Jugendliche eigentlich erst noch vor sich haben.
Um solch gravierende Schäden zu rechtfertigen, bedarf es eines hohen Nutzens. Dass dieser durch Schulschließungen erreicht würde, war zu Beginn der Pandemie eine durchaus plausible Annahme. Es gab im Frühjahr 2020 gute Gründe, erst einmal davon auszugehen, dass Kinder ähnlich wie bei der Influenza Treiber des Infektionsgeschehens sind. Schulschließungen könnten so einen entscheidenden dämpfenden Effekt haben, so die begründete Erwartung.
Klar war dabei aber auch, dass der erhoffte Nutzen nicht primär bei den Kindern selbst entsteht, sondern es in erster Linie um den Schutz der stärker gefährdeten Personengruppen ging. Und dieser Faktor hängt bei diesem Virus in besonderem Maß vom Alter ab, das Risiko eines 80-Jährigen, an Covid-19 zu sterben, ist 600-mal so hoch wie das eines 30-Jährigen. Den Kindern und Jugendlichen wurden die Schulschließungen also überwiegend fremdnützig auferlegt, so lautete das nur selten offen ausgesprochene, aber dennoch insbesondere zu Beginn der Pandemie breit akzeptierte Kalkül.
In den Monaten danach wuchsen aber die Zweifel am tatsächlichen Nutzen dieses Vorgehens, insbesondere nachdem ab Mai 2020 viele europäische Länder die Schulen wieder öffneten und sich dort kein nennenswerter Einfluss auf das Infektionsgeschehen feststellen ließ – was ja die Frage aufwirft, ob und inwiefern die Schulschließungen überhaupt notwendig waren.
Es begann ein zäher Kampf um die Bedeutung von Kindern und Jugendlichen für das Infektionsgeschehen, der vor allem deswegen besonders hart und emotional ausgefochten wurde, weil viele der beteiligten Akteure – so wie ich auch! – als Eltern persönlich stark betroffen waren. Beide Seiten präsentierten Studien für ihre Sicht der Dinge und ignorierten weitgehend die Erkenntnisse der Gegenseite.
Mir scheint sich nach über einem Jahr Ringen um Deutungshoheit bei diesem Thema abzuzeichnen: Kinder und Jugendliche können sich infizieren und andere anstecken, sie nehmen am Infektionsgeschehen teil. Jugendliche entgegen mancher Hoffnungen aufseiten der Kritiker von Schulschließungen wohl im selben oder ähnlichen Umfang wie Erwachsene, Kinder vor der Pubertät entgegen der Befürchtungen aufseiten der Anhänger von Schulschließungen wohl in einem geringeren Maß als Jugendliche und Erwachsene.
Während demnach bei Schulschließungen ab Klasse 7 zwar immer noch die Frage zu stellen und zu bewerten ist, ob der Nutzen tatsächlich den angerichteten Schaden überwiegt (ich tendiere zu der Auffassung: nein), muss aber dennoch konzediert werden, dass es in dieser Alterskategorie einen Nutzen in Form einer Dämpfung des Infektionsgeschehens wohl tatsächlich gab.
Bei Grundschulen hingegen scheint mir die Frage nach wie vor offen zu sein, ob ihre Schließung wirklich Substanzielles zur Eindämmung des pandemischen Geschehens beigetragen hat. Denn das setzte voraus, dass es bei weiter offenen Grundschulen zu einer nennenswerten Weitergabe des Virus innerhalb (!) der Schulen gekommen wäre. Definitiv kann dies niemand beantworten, aber zumindest das RKI schätzt den Anteil von Kitas und Grundschulen am gesamten Transmissionsgeschehen als „niedrig bis moderat“, den Einfluss offener Kitas und Grundschulen auf schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle als „niedrig“ ein.
Das erschwert natürlich die Argumentation, warum Schulschließungen überhaupt erforderlich sind – praktisch wie rechtlich. Und so wandelte sich die Begründung schleichend. Stand insbesondere im ersten Lockdown noch die Eindämmung des Infektionsgeschehens insgesamt im Vordergrund, dominierte spätestens mit dem Aufkommen der britischen