Quote, Rasse, Gender(n). Christoph Türcke
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Paritätisch gewählte Abgeordnete sind hingegen in erster Linie Gleichstellungsbeauftragte einer Gruppe. Strukturell ähneln sie Lobbyisten. Das sind Leute, die bei Politikern vorsprechen, um sie für die Belange bestimmter Einrichtungen empfänglich zu machen: meistens für die Geschäftsinteressen von Firmen, gelegentlich auch für die Anliegen von Sozialverbänden, Religionsgemeinschaften etc. Lobbyisten werden dafür bezahlt, dass sie bestimmten Gruppeninteressen in Parlament und Regierung Gehör verschaffen. Paritätsabgeordnete werden dafür gewählt, dass sie bestimmte Gruppeninteressen im Parlament durchsetzen. Der Lobbyismus ist eine informelle Grauzone – gelegentlich eine dunkelgraue Schmuddelecke der Zivilgesellschaft (die ja keineswegs bloß aus emanzipatorischen Bürgerinitiativen besteht). Die Bestellung von Paritätsabgeordneten erfolgt hingegen nach Paragraphen und transparenter Proporzberechnung. Sie läutert den Lobbyismus zum legalen politischen Hauptgeschäft.
»Lobby« ist bekanntlich der Name für den Vorraum zum Parlament. Mit dem Paritätsproporz verschiebt sich die Lobby gewissermaßen in den Parlamentssaal selbst. Mögen Paritätsabgeordnete auch weiterhin »nur ihrem Gewissen unterworfen« sein, so ist doch ihr Gewissen nun seinerseits bestimmten Gruppenbelangen unterworfen. Der Grad ihres Engagements für die jeweilige Gruppe muss sich dadurch nicht erkennbar ändern. Er zeigt ohnehin nie zuverlässig an, ob ihr Gewissen den Angelpunkt ihrer Eigenverantwortung ausmacht oder nur als das gewissenhafte Ausführungsorgan eines Gruppenauftrags zum Zuge kommt. Dennoch hängt von diesem Unterschied das Gesamtverständnis von Volksvertretung ab. Es ist etwas grundlegend anderes, ob das Gewissen als Ich oder als Über-Ich fungiert. Im zweiten Fall nähern sich die Gruppenbelange, für die jemand gewählt wurde, einem imperativen Mandat an. Sie gewinnen selber den Rang einer Gewissensinstanz, die zwar rechtlich nicht einklagbar ist, jedoch als konstantes moralisches Druckmittel wirkt.
Wir bekommen die Gleichstellung nicht hin, wenn wir sie nicht durch ein rechtlich verbrieftes Quantum von Posten regeln: Das ist das kaum verhohlene Geständnis hinter der Frauenquote – und das Muster aller weiterer Gleichstellungsinitiativen: für People of Color, Menschen mit Behinderungen, Muslime oder Juden. Unterstellt wird dabei stets, dass Gleichstellung nur dann funktioniert, wenn direkt Betroffene diese Posten bekleiden, weil nur sie wissen, was es heißt, unter der jeweiligen Benachteiligung zu leiden. Fürsprache ist nur dort authentisch, wo man für seinesgleichen spricht, für eine homogene Gruppe, mit der man Betroffenheit, Erfahrungen und Einstellungen teilt: Das ist der gemeinsame Grundsatz aller Bestrebungen, die heute unter »Identitätspolitik« firmieren. Müssten dann nicht auch Kinder und Gefängnisinsassen in die Gremien, wenn deren Belange authentisch vertreten werden sollen? Fragen dieser Art werden gern ausgeblendet. Sie stören die identitätspolitische Gleichsetzung von Betroffenheit und Kompetenz. Wer nicht zu den Betroffenen gehört, ist nicht legitimiert, sie zu vertreten. Er ist mit ihren Belangen nicht wirklich vertraut, kann sie nur verwalten, nicht teilen, ihnen nur eine Stimme leihen, die nicht ihre ist. Er entwendet ihnen »ihr Ding«.
Hütet euch vor Fremden in der eigenen Gruppe, ist die identitätspolitische Elementarbotschaft – eine xenophobe Engführung des Repräsentationsgedankens.7 Repräsentation hat stets zwei gegenläufige Tendenzen: das Sprechen anstelle von anderen, das sie bevormundet; und das Sprechen für andere, das den Belangen derer Nachdruck verleiht, die sich aufgrund ihres Alters, ihrer Konstitution oder sozialen Lage nicht selbst Gehör verschaffen können. Oft verschwimmen diese beiden Tendenzen ineinander. Jedenfalls sind sie nicht keimfrei voneinander trennbar. Auch wer nur für seinesgleichen spricht, spricht dabei immer auch für Individuen, die anders sind als er selbst. Dass etwa die mittelständische Abgeordnete auch für Migrantinnen spricht, nicht nur für mittelständische Frauen, oder ihr körperlich behinderter Kollege nicht nur für körperlich, sondern auch für geistig Behinderte – das wird identitätspolitisch gewöhnlich zwar nicht beanstandet, gelegentlich sogar begrüßt. Aber dass Repräsentation ohne eine Prise Empathie für andere gar nicht möglich ist; dass die Fähigkeit, die Belange anderer empathisch zu den eigenen zu machen, die Signatur von Solidarität ist – das hat in diesem Denkmuster keinen Ort. Empathie ist ihm vornehmlich eine Chiffre für Übergriffigkeit. Deshalb die Gleichsetzung von Betroffenheit und Kompetenz. Jede benachteiligte Gruppe soll ihre Sprecherquote möglichst ganz aus sich selbst rekrutieren. Eine bevormundungsfreie Sprechervielfalt, eine unbegrenzte Diversifizierung der Gleichstellung wird proklamiert, aber durch xenophobe Mentalität, nach der Devise: Vertrauen können wir nur Leuten aus unserm Stall.
Eine neue Form von Clandenken zieht damit ins Parlament ein – auf dem Niveau internetgestützter, hoch mobiler Gruppenbildungsprozesse. Zur Erinnerung: Die historische Vorform des demokratischen Parlaments war die Ständeversammlung aus Klerus, Adel und, mehr geduldet als respektiert, dem dritten Stand der Bürger. Mit der französischen Revolution schwang sich der dritte Stand zum allgemeinen Bürgerstand auf. Klerus und Adel verloren ihren Ständestatus. Sie wurden sozusagen in die Lobby gedrängt. Dort haben sie nicht aufgehört, zugunsten ihrer Interessen auf Abgeordnete einzuwirken – im Verbund mit der neuen bürgerlichen Wirtschaftsmacht, die nicht bloß ein Stand ist, sondern sich als Geschäftsgrundlage des gesellschaftlichen Ganzen etabliert hat. Der moderne Parlamentarismus arbeitet auf dieser Grundlage. Er bekommt ihre Dornen nicht weg: den Dauerzwang zu wirtschaftlichem Wachstum, zur Einsparung von Lohnkosten, zur Massenentlassung von Arbeitskräften, zu untilgbarer Staatsverschuldung. Er bekommt auch die lobbyistische Grauzone an seinen eigenen Rändern nicht weg. Deren Paradigma aber ist die Wirtschaftslobby. Von ihr haben alle weiteren Lobbys gelernt, wie man Druck auf Parlament und Regierung ausübt. Immerhin ist dieser Druck nicht rechtsverbindlich. Die Volksvertreter sind ihm, solange sie »nur ihrem Gewissen unterworfen« sind, nicht ausgeliefert. Sie können ihn zurückweisen, abfedern, für eigene parteipolitische Vorhaben nutzen. Dieser Freiraum schrumpft, wenn sie als Gleichstellungsbeauftragte einer bestimmten Gruppe im Parlament sitzen und damit selbst zu Lobbyisten tendieren.
Das »linke« Projekt der paritätischen Besetzung des Parlaments ist alles andere als subversiv. Es befördert das Vordringen von Wirtschaftszwängen in die politische Sphäre. Der Lobbyismus hört dadurch, dass er durch Paragraphen und Proporzberechnungen verrechtlicht wird, ja nicht auf, ein Abkömmling des Wirtschaftslobbyismus zu sein. Die Vervielfältigung der Gleichstellungsansprüche vervielfältigt die Anzahl von Gruppen, die um Posten und Steuergelder konkurrieren. Und nach dem Wirtschaftsmodell des Trickle down, des »Durchsickerns« von Unternehmensgewinnen in die Niederungen der Gesamtbevölkerung, soll auch die Gleichstellung von den Vorgesetzten zur Basis durchsickern.
Absehbar, dass dieses Paritätskonzept weniger die Basisdemokratie vorantreiben als zu einer Lobbydemokratie führen wird, in der das Parlament wie in vorbürgerlicher Zeit wieder nach Proporz zusammengesetzt ist; freilich nicht als Vertretung von Ständen, sondern von vielen mobilen Gruppen, die wie Clans ihre authentischen Sprecher abordnen. Ein hoch bewegliches Hightech-Parlament zeichnet sich ab, das strukturell gleichwohl eher einer archaischen Stammesversammlung als dem aktuellen deutschen Bundestag ähnelt. Dabei wäre es äußerst wünschenswert, wenn mehr Frauen, People of Color, Muslime, Juden, Menschen mit Behinderungen im Parlament säßen. Doch wenn die Erhöhung ihrer Zahl durch Proporzgesetzgebung verordnet wird, verfängt sich die Demokratie in einer selbst gestellten Falle und wird ihren Gegnern zur leichten Beute.
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